Startseite Archiv Tagesthema vom 04. Mai 2020

Freiwilligendienste bangen um Strukturen

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Freiwilligendienste verbinden Menschen rund um die Welt. Eine Freiwillige, die nun ihren Einsatz abbrechen musste, und ein Koordinator erzählen, was der Ausbruch der Corona-Pandemie für sie und die Projekte bedeutet.

Es ist laut, Dutzende Kinder sitzen nicht nur auf den Stühlen in einem Klassenzimmer, das eigentlich zu klein ist, sondern auch auf dem Boden oder den Armlehnen von anderen. Vielleicht zehn in den vorderen Reihen hören nur zu, was Charlotte Stelter und eine sambische Lehrerin vorn erzählen.

So sah vor gefühlt ganz kurzer Zeit noch der Alltag der 19-jährigen Hannoveranerin aus, den sie gern noch fünf Monate länger gehabt hätte. Doch nun sitzt sie auf ihrem Bett im Haus ihrer Eltern, neben ihr hängen Dutzende Fotos an der Wand, Schnappschüsse und Gruppenfotos aus dem letzten halben Jahr. Sambia ist ihr noch nah. „Es fühlt sich so nutzlos an, wieder hier zu sein.“ Eigentlich wäre die Abiturientin noch bis Ende Juli in Choma nahe der Grenze zu Simbabwe geblieben, hätte die Lehrkräfte unterstützt, mit den Kindern Sport gemacht und eine andere Welt kennengelernt, doch wegen der Corona-Pandemie wurde auch sie aus ihrem Freiwilligendienst zurückgeholt.

„Mmabana“ heißt ihr Projekt, „Mutter der Kinder“. „Es übernimmt die Kosten für die Schule, die Uniformen und Bücher und gibt Essen aus – gerade in der Dürrezeit ist das für die Kinder extrem wertvoll“, erzählt Charlotte Stelter. Eine Vorschulgruppe bringt Kindern Englisch bei, wenn es ihre Eltern nicht sprechen, damit sie später in der Schule etwas verstehen können. Im „Kids Club“ können sich die Kinder jeden Sonntag nach dem Gottesdienst mit Hula-Hup-Reifen und anderen Dingen austoben. „Sie kommen aus dem gesamten Umland, das ist ein Highlight für sie.“ Und Schulabgänger können einen kostenlosen Computer-Kurs machen, wenn sie dafür in den Projekten mithelfen.

Für Charlotte Stelter war jedoch der „She club“ eine besondere Erfahrung: Mit Mädchen, die nur ein, zwei Jahre jünger sind als sie, sprach sie über vieles, was sonst Tabuthemen sind: wie man etwa mit der Periode umgeht und sich richtig wäscht. Welche Folgen Alkoholkonsum haben kann und über die Dynamik von Gruppenzwang. „Wir wollen den Mädchen Selbstbewusstsein vermitteln, dass sie sich nicht nur als Haushaltskraft verstehen, als die sie oft angesehen werden. Das war schon irgendwie verrückt, für mich als Weißhäutige vor so vielen Mädchen zu stehen, aber meine Kolleg*innen haben mich unterstützt und auch übersetzt.“

Während sie all das am Telefon erzählt, schwingt die Freude hörbar mit – begeistert und sehnsüchtig. Denn das Abenteuer endete ganz plötzlich. „An einem Montag hörten wir, dass die US-amerikanischen Freiwilligen zurückgeschickt wurden, das war unvorstellbar. Mittags kam dann eine Mail vom BIZ mit der dringenden Empfehlung, alle nach Hause zu schicken. Das ELM hat uns dann freigestellt, ob wir dem folgen – am Dienstag war es dann keine Frage mehr, die Flüge wurden gebucht. Ich bin dann vorher ganz schnell noch zu den Viktoria-Wasserfällen gefahren, so etwas wie das Wahrzeichen Sambias, die man einfach gesehen haben muss.“

Über Johannesburg, Doha und Brüssel ging es zurück nach Hannover – in die Quarantäne. „Es war so langweilig und fühlte sich nutzlos an, wieder da zu sein“, sagt Charlotte Stelter, „man hatte gar keine Vorfreude auf Deutschland, die Familie und Freunde - aber dafür offene Einladungen von sambischen Freunden, sie auf ihren Farmen zu besuchen, das Land zu erkunden.“ Es ist eine unverhoffte, sogar ungewollte Freizeit in Deutschland. Jetzt sucht Charlotte Stelter kurzfristige Praktikumsplätze, um die Zeit sinnvoll zu überbrücken und tauscht sich per Videochat mit anderen Freiwilligen aus, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. „Nächstes Jahr wollen meine Familie und ich dann nochmal nach Sambia, als gemeinsamer Urlaub. Ich möchte die Menschen nochmal sehen, von denen ich mich nicht richtig verabschieden konnte.“ – Wenn Corona es wieder zulässt.

Herr von Türk, die Freiwilligen sind nun seit etwa sieben Wochen zurück in Deutschland. Warum mussten sie vorzeitig zurückkommen?

Von Türk: „Das war ein harter Schritt, aber richtig so. Zum einen konnten wir nicht absehen, wie sich die Fall-Zahlen entwickeln würden. Anders als in Deutschland sind die Gesundheitssysteme in vielen Ländern schon ohne die Corona-Pandemie am Anschlag – wir wollten kein Risiko eingehen, dass womöglich die medizinische Versorgung nicht gewährleistet ist. Zweitens gibt es nur wenig intensivmedizinische Plätze und die sollen den Menschen vor Ort zur Verfügung stehen. Drittens: wenn ein Freiwilliger hätte nach Deutschland ausgeflogen werden müssen, wäre das nicht mehr möglich gewesen, weil der Flugverkehr zum Erliegen gekommen ist und die Grenzen geschlossen sind. Es war eine schwierige Entscheidung, aber heute sind wir froh, sie so getroffen zu haben – auch, wenn das nun für die Freiwilligen emotional sehr schwierig ist.“

Die Freiwilligen haben nur eine Woche vor dem Rückflug von der Rückreise erfahren. Sie waren davon ausgegangen, noch einige Monate zu bleiben. Wie haben die Freiwilligen reagiert?

Von Türk: „Enttäuscht natürlich, aber sie konnten es nachvollziehen. Sie fühlen sich wie in einer Wolke, sagen manche. Die Seele sei noch im Einsatzland, der Körper aber nicht. Sie wurden regelrecht aus diesem Lebensabschnitt herausgerissen und hatten kaum Gelegenheit, sich von den Menschen zu verabschieden. Das hinterlässt ein krasses Gefühl. Manche sagen, die Rückkehr fühle sich falsch an, als hätten sie die Menschen zurückgelassen - obwohl sie wissen, dass das so nicht stimmt und es besser so war. Die Entwicklung der Pandemie seitdem gibt uns recht.“

Wie sehr fehlen die Freiwilligen jetzt in den Projekten?

Von Türk: „Die meisten Projekte sind nun ohnehin wegen der Pandemie geschlossen. In manchen Ländern ist der „lockdown“ noch viel schärfer als in Deutschland. Wenn die Freiwilligen jetzt so gut wie allein in ihren Unterkünften sitzen würden und nichts tun könnten, wäre das auch nicht sinnvoll. Wir stehen in Kontakt mit unseren Partnern vor Ort und wenn die sagen: ,Ja, wir können wieder arbeiten, schickt uns Freiwillige‘ – dann machen wir das. Natürlich unter der Bedingung, dass es auch von deutscher Seite kein ,Nein‘ gibt - das BMZ, das Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, und das Auswärtige Amt also mitmachen.“

Wie arbeiten Sie als Entsendeorganisation jetzt weiter?

Von Türk: „Auch für uns ist das eine völlig neue Situation, es gibt viele offene Fragen: Wie gewähren wir nun die „Nachsorge“? Normalerweise gibt es zum Beispiel fünftägige Treffen, bei denen die Freiwilligen sich austauschen und ihre Erlebnisse verarbeiten. Wir haben jetzt schon Videokonferenzen gehabt und mit allen Freiwilligen telefoniert, aber das kann noch nicht alles sein.

Eine andere Frage war, welchen Status die Freiwilligen jetzt eigentlich haben: gelten sie noch als Freiwillige oder gilt der Einsatz als abgebrochen und sie sind weder Schüler*innen, noch Studierende oder Arbeitende? Zum Glück ist ersteres der Fall, so können sie zum Beispiel weiterhin Kindergeld bekommen und familienversichert sein, da hängen viele Dinge dran.“

Wie planen Sie denn jetzt weiter – gehen Sie davon aus, dass im Sommer neue Freiwillige in die Welt geschickt werden können?

Von Türk: „Wir nehmen derzeit Bewerbungen an, ja. Allerdings wissen wir nicht, ob wir die Freiwilligen wirklich entsenden können. Wir kooperieren ja eng mit „weltwärts“, dem Entsendeprogramm des Bundesministeriums. Und die sagen, dass es keine Ausreisen vor Oktober geben wird. Das gilt dann auch für uns. Über Netzwerke und Interessenverbände versuchen wir jetzt zu bewirken, dass die Programme nicht zum Erliegen kommen, dass das BMZ uns die Möglichkeiten gibt, die Strukturen zu erhalten. Wenn durch die Krise Gelder und damit Kontaktpersonen wegbrechen, würde es sehr schwer, überhaupt wieder anzufangen.

Und wir haben die Sorge, dass die Länder durch die Krise so destabilisiert werden könnten, dass die Sicherheitslage keine neue Entsendung von Freiwilligen zulässt. All das müssen wir abwarten.“

Wie dramatisch wäre es, wenn es keinen Jahrgang 2020/21 gäbe?

Von Türk: „Das wäre ein großes Drama. Zum einen hieße das ja, dass sich die Lage in den Aufnahmeländern deutlich verschlechtert hätte und so schlimm wäre, dass man keine Freiwilligen dorthin schicken kann. Für die Freiwilligen wäre es natürlich traurig, weil sie sich darauf freuen und vorbereiten, aber auch für die Entsende-Organisationen wären die Folgen unabsehbar. Denn wenn Finanzierungen eingestellt werden und vielleicht auch Partner vor Ort ihre Arbeit verlieren, würden über Jahre gewachsene Strukturen zerbrechen. Man müsste diese Netzwerke erst wieder mühsam aufbauen und das braucht Zeit. Das ist ein wichtiger Beitrag zur Bildungsarbeit und Demokratie-Bildung, der dann wegbrechen könnte.“

Christine Warnecke

Das ev.-lutherische Missionswerk (ELM)

Das ev.-luth. Missionswerk Niedersachsen (ELM) wurde 1977 gegründet und gehört zu einem Netzwerk von 23 evangelischen Kirchen in 19 Ländern auf vier Kontinenten. Es unterstützt Gemeinden und Freundeskreise in Europa, Afrika, Asien und Lateinamerika. Dazu gehört auch der Austausch von Theologen, Entwicklungsfachkräften und Ehrenamtlichen; es unterstützt Projekte der Partnerkirchen auch finanziell. Als Stiftung arbeitet es auf der Grundlage rechtverbindlicher Verträge im Auftrag der drei evangelischen Landeskirchen Hannovers, Braunschweig und Schaumburg-Lippe und unterstützt die missionarischen Aktivitäten in Deutschland und in der Welt.