"Pflege? Das ist etwas sehr Schönes"
Die Darstellung der Archivmeldungen wird kontinuierlich verbessert. Sollten Sie Fehler bemerken, kontaktieren Sie uns gerne über support@systeme-e.de
Britta möchte gern etwas trinken. Nur was? "Cola oder Wasser?", fragt Jonas Richter nach einem Blick in Brittas Kühlschrank und schaut sie fragend an. Britta wippt aufgeregt in ihrem Rollstuhl hin und her, ihr Kopf hüpft förmlich, schließlich antwortet sie langgezogen und lautstark: "Cola". Die Frau mit der Brille und den langen, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen braunen Haaren ist durstig, der Tag auf ihrer Arbeit in der Verwaltungsgruppe der Hannoverschen Werkstätten war lang. Nun freut sich die 42-Jährige auf den Feierabend. Dass sie ihn in ihrem eigenen Zuhause verbringen kann, ist nicht selbstverständlich - denn die 42-Jährige leidet unter einer Bewegungsstörung, die sie von Geburt an zu einem Pflegefall gemacht hat. Ein Wohnprojekt mit ambulantem Dienst von DIAKOVERE in Hannover-Misburg gibt ihr dennoch viel Freiheit - und zugleich genau das richtige Maß Unterstützung.
"Servicewohnen" nennt das diakonische Gesundheitsunternehmen in evangelischer Tradition sein Konzept: Menschen mit und ohne Behinderung leben gemeinsam unter einem Dach. Im Sommer 2019 wurden zwölf Wohnungen für Menschen eingeweiht, die auf barrierefreien Wohnraum und Hilfe angewiesen sind. Auch Britta profitiert von dem Konzept: Sie leidet unter einer sogenannten infantilen Zerebralparese, die einen deutlich erhöhten Muskeltonus bewirkt. Ihre Bewegungen sind meist unkontrolliert, dazu kommt eine schwer verständliche Sprache. Kognitiv ist die Rollstuhlfahrerin voll auf der Höhe - an ihrem Schreibtisch wartet eine Spezialtastatur mit großen Buchstaben auf die Klicks der 42-Jährigen, die vor allem auf Facebook sehr aktiv ist.
Aber für sehr viele Dinge in ihrem Leben braucht sie die Hilfe eines Pflegers wie Jonas Richter. Der füllt an diesem Dienstagnachmittag deshalb Cola in Brittas Trinkflasche mit integriertem Strohhalm, setzt sie ihr geduldig mehrfach an den Mund, wartet, bis sie getrunken hat. Und kümmert sich dann um das gemeinsame Einkaufen. Es ist nichts Spektakuläres an seinem Beruf als Gesundheits- und Krankenpfleger, könnte man meinen. Doch der 23-Jährige sieht das ganz anders. "Den Alltag von Menschen über Jahre hinweg mitzuerleben, ihre Höhen und Tiefen, neue technische Möglichkeiten und Hilfsmittel - das ist etwas sehr Schönes", sagt Richter.
Richters Klient*innen wohnen in den eigenen vier Wänden, sie haben ein hohes Maß an Selbstbestimmung - sofern es ihre gesundheitliche Situation zulässt, können sie durchaus auch mal ganz auf den Besuch des Pflegedienstes verzichten. Üblich ist ansonsten, je nach Grad der Einschränkung zwischen wenigen Minuten und mehreren Stunden pro Tag Unterstützung von den Pfleger*innen und Freiwilligendienstlern zu bekommen: bei der Körperpflege und im Haushalt, beim Kochen. Die Mehrzahl der zwölf Bewohner*innen geht arbeiten oder studiert - ihr Tag ist klar umrissen. Andere brauchen Hilfe beim morgendlichen Aufstehen, beim Strukturieren des Tages. Und manche wollen einfach mal in der Stadt shoppen und brauchen als Rollstuhlfahrer*in jemanden, der sie dabei unterstützt.
Es gebe durchaus viel Routine in seinem Arbeitsalltag, sagt Jonas Richter. Und zugleich sei die Vielfalt Programm in der Pflege. Sie ist für ihn eine Leidenschaft geworden. Dabei hatte er nach der Schule eigentlich eine Ausbildung zum Mechatroniker machen wollen. Die monatelange Wartezeit sollte mit einem freiwilligen sozialen Jahr in einem Pflegedienst überbrückt werden - es wurden die Ambulanten Dienste bei DIAKOVERE. Und eine Liebe fürs Leben. "Ich bin aus der Orientierungslosigkeit direkt in einen Beruf gelangt, den ich bis heute wirklich gern mache", sagt er. "Ich wollte etwas Sinnvolles tun, und etwas mit Menschen - genau das bietet mir die Pflege." Auch Planung und Struktur sind für ihn wichtige Elemente, sagt er - die seien auf Station im Krankenhaus, wo er seine Ausbildung absolviert hat, genauso nötig wie in der Ambulanten Pflege, in der Richter nun seit einigen Monaten fest arbeitet.
Hilfe in Alltagsdingen steht nun genauso auf seinem Tagesplan wie Verbandswechsel oder das Anlegen von Einmalkathetern. Das Krankenhaus vermisst er eher nicht, sagt der Pflegefachmann: "Dort hat man oft keine oder nur wenig Zeit für die Patient*innen. Wer diesen Beruf bewusst gewählt hat, könnte daran schier verzweifeln." Berichte über Personalmangel in Krankenhäusern kann er aus eigener Anschauung bestätigen, die ausschließlich negative Sicht auf die Pflege stört ihn aber: "Es ist ein superinteressanter Beruf. Man lernt so viel über die menschliche Anatomie, über Krankheitsbilder." Und bei seiner Arbeit im Ambulanten Dienst ist auch Zeit für menschliche Begegnungen drin. "Pflege nur stumpf durchführen - das wäre nichts für mich", sagt Richter. Er schätzt an seinem Beruf, dass jeder seine ganz eigene Geschichte mitbringt. "Die Leute haben Ängste und Sorgen, die brauchen ein offenes Ohr. Dafür komme ich gern zur Arbeit, jeden Tag." Und er plant auch seinen persönlichen Lebenslauf weiter - mit einem berufsbegleitenden Studium des Pflegemanagements.
Alexander Nortrup