"Das Gefühl von Bedrohung ist ständig dabei"
Die Darstellung der Archivmeldungen wird kontinuierlich verbessert. Sollten Sie Fehler bemerken, kontaktieren Sie uns gerne über support@systeme-e.de
"The Night Holocaust Concert" erinnert in Hannover mit einer Lesung und eindrücklicher Musik an den 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Ein Besuch bei der liberalen jüdischen Gemeinde in Hannover-Stöcken zeigt die Dringlichkeit des Themas: Hassanrufe und offener Antisemitismus sind dort Teil des Alltags, viele Mitglieder fühlen sich bedroht, die Polizei bewacht das Gemeindehaus.
Mittwochmorgen in Hannover. Das Telefon klingelt, Yevgen Bruckmann nimmt ab. „Heil Hitler!“ brüllt ihm ein fremder Mann ins Ohr. „Die Gaskammern sind wieder geöffnet! Euch hat man wohl damals vergessen!“ Bruckmann zuckt kaum merklich, legt dann auf. Es ist scheußlich und illegal, was er da hört. Und doch sinnlos, etwas zu erwidern - das weiß der 23-Jährige. Als Mitglied einer jüdischen Gemeinde ist er es gewohnt, bedroht und beschimpft zu werden. Dass man ihm am Telefon den Tod wünscht, kennt er schon länger.
Das Telefon, um das es geht, steht im Gemeindehaus der liberalen jüdischen Gemeinde Hannover. Das Problem ist aber ein bundesweites: Erst im Frühjahr 2019 hat Felix Klein, der Antisemitismus-Beauftrage der Bundesregierung, Juden vor dem öffentlichen Tragen der Kippa gewarnt. Und das Entsetzen über den Anschlag in Halle (Saale) auf eine Synagoge am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, am 9. Oktober 2019, ist noch allgegenwärtig.
Für Bruckmann, den Studenten der Sozialwissenschaft, ist der Hass Teil seines Alltags. „Antisemitische Einstellungen sind immer noch verbreitet, sie treten sogar wieder häufiger zutage“, sagt der 23-Jährige. So sehr, dass draußen vor dem Gemeindehaus stets ein Polizeiwagen Wache hält. Bruckmann erstattet in solchen Fällen Anzeige gegen den unbekannten Anrufer - damit der Vorfall in den polizeilichen Statistiken erscheint. Doch die Strafverfolgung läuft regelmäßig ins Leere.
Das Gemeindehaus in Hannover-Stöcken und die Synagoge sind nicht einfach offen, wie man es etwa von christlichen Kirchen kennt – hinein kommt nur, wer angemeldet ist. Wenn Yevgen Bruckmann von der Straßenbahn dorthin läuft, schaut er sich aufmerksam um: Halten sich verdächtige Personen dort auf, beobachten womöglich das Gelände? „Das ist der Weg, den viele Gemeindemitglieder nehmen, da sind wir wachsam“, erklärt er.
Rebecca Seidler ist nicht nur ehrenamtlich in der liberalen jüdischen Gemeinde tätig - sie hat auch die pädagogische Leitung der dazugehörigen Kita. „Wir haben keine Angst“, sagt die 39-Jährige. „Aber wir haben uns Vorsicht und Achtsamkeit angeeignet. Die Bedrohung, die mögliche Gefahr, das läuft im Hinterkopf immer mit“. An manche Orte geht sie nicht mehr allein, erzählt Seidler - an manche auch gar nicht mehr.
Etwa 200.000 Juden und Jüdinnen leben heute in Deutschland – viele von ihnen fühlen sich bedroht. „Viele behalten es für sich, dass sie Juden sind, sie wollen sich nicht den Anfeindungen aussetzen“, sagt Yevgen Bruckmann. Er könne das verstehen, sagt er – wer wie er und Rebecca Seidler in der Öffentlichkeit auftritt, Interviews gibt oder bei Demos mitläuft, stehe „besonders im Fokus“ von Menschen mit antisemitischem Weltbild und könnte das nächste Ziel eines Anschlags werden.
„Ich wünschte, sagen zu können, dass wir Deutsche aus der Geschichte gelernt haben“, hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Donnerstag in einer Ansprache in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem gesagt. "Aber das kann ich nicht sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten. Das kann ich nicht sagen, wenn jüdische Kinder auf dem Schulhof bespuckt werden.“ Es sei nicht dieselbe Zeit, es seien nicht dieselben Worte, nicht dieselben Täter, sagte Steinmeier. "Aber es ist dasselbe Böse. Und es bleibt die eine Antwort: Nie wieder!“
Hass, Gewalt und antisemitische Diskriminierung - dagegen will das „Night Holocaust Concert“ ein Zeichen setzen. Das monumentale Konzert am symbolträchtigen Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz wird am Montagabend im Hannover Congress Centrum (HCC) als Deutschlandpremiere aufgeführt. Auch die Landeskirche Hannovers unterstützt die Inszenierung, bei der jüdische Sakralmusik des Komponisten Leib Glantz zu hören sein wird - gespielt vom Kaliningrader Symphonieorchester unter Arkadi Feldman, dem Staatschor Vilnius, der Moscow Male Jewish Cappella, den Synagogalchören Hannover und Hamburg, dem Jungen Vocalensemble Hannover und den Solisten Daniel Mutlu (New York) und Benjamin Maissner (Toronto).
Im Wechsel mit der Musik liest Schauspieler Sebastian Koch („Das Leben der anderen“) Passagen aus dem Buch „Die Nacht“ des Holocaust-Überlebenden Elie Wiesel. Der 2016 gestorbene rumänischstämmige US-Amerikaner erzählt in seinen Texten ohne viel Pathos von seiner traumatischen Odyssee durch mehrere Vernichtungslager, vom Verlust seiner Eltern und Geschwister, von Tod und Verzweiflung. „Wiesels Texte sind in ihrer Schlichtheit unglaublich wirkungsvoll“, sagt Matthias Düsterhöft, der geholfen hat, die Veranstaltung nach Hannover zu holen. Die Essenz des dramatischen Buches werde an dem Abend erzählt - begleitet vom Orchester und 115 Sänger*innen, die in hebräischer Sprache von ihrem Glauben singen. „Es wird beeindruckend“, sagt Düsterhöft, der Repräsentant des Projektes für Europa. Ab 17 Uhr können Besucher die Ausstellung „5 rooms“ zu Holocaust, Ausgrenzung, Antisemitismus und Rechtsextremismus im Foyer des Kuppelsaals sehen - um 19 Uhr beginnt dann das Konzert. Kostenfreie Eintrittskarten sind noch an der Abendkasse erhältlich.
Das Erinnern an das Holocaust, der im hebräischen „shoah“ („Katastrophe“) heißt, ist für Jüdinnen und Juden in Deutschland ein wichtiger Teil ihrer Identität. Genauso wichtig wie die Auseinandersetzung mit heutiger Judenfeindlichkeit und Bedrohung. „Wir sind noch lange nicht am Ende dieses Wegs“, stellt Rebecca Seidler nüchtern und pragmatisch fest. Und weiß, dass der nächste Drohanruf auch im Jahr 2020 nicht lange auf sich warten lassen wird.
Christine Warnecke / Alexander Nortrup