Startseite Archiv Tagesthema vom 16. Januar 2020

Bundestagsbeschluss zu Organspenden

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Der Deutsche Bundestag hat eine Neufassung der Gesetzgebung zur Organspende in Deutschland beschlossen. Mit 432 Ja- zu 200 Nein-Stimmen verabschiedeten die Abgeordneten am Donnerstag in einer namentlichen Abstimmung ohne Fraktionszwang den Gesetzentwurf der „erweiterten Entscheidungslösung“, 37 Abgeordnete enthielten sich. Zuvor entschieden sich die Parlamentarier gegen die „doppelte Widerspruchslösung“, die unter anderem von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vorgelegt worden war.

Künftig wird damit eine Organentnahme weiterhin nicht ohne ausdrücklich geäußerten Willen des Spenders möglich sein. Die Bürger sollen bei Arztbesuchen, Ausweisverlängerungen oder ähnlichen Vorgängen immer wieder um eine Entscheidung gebeten werden.

Gespendete Organe können nach dem Tod eines Menschen einem anderen das Leben retten. Bild: Jens Schulze

"Der Deutsche Bundestag hat entschieden: Auch künftig werden Menschen nach ihrem Tod nicht automatisch zu Organspendern*innen. Die Debatte war kontrovers, auch Abgeordnete der gleichen Partei haben heute im Parlament leidenschaftlich für unterschiedliche Positionen geworben. Pluralität und Meinungsvielfalt sind im Bundestag deutlich zutage getreten - eine solche Debatte zeigt, wie lebendige Demokratie aussieht," sagte Landesbischof Ralf Meister.

"Ich begrüße es, dass nun das Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft verabschiedet wurde. Aus meiner Sicht darf niemand zu einer Entscheidung gezwungen werden. Dennoch bleibt es weiter - und ganz unabhängig davon, was jetzt gesetzlich geregelt wurde - in der Verantwortung jedes einzelnen Menschen, eine Entscheidung zu treffen. Deshalb muss das neue Gesetz jetzt rasch umgesetzt werden. Die Frage der Organspende ist immer eine höchst persönliche und emotionale. Es ist eine Entscheidung, die in die tiefsten Schichten der menschlichen Seele hinuntersteigt: Ich muss mich mit meinem Ende auseinandersetzen, mit Sterben und Tod. Als Kirche werden wir weiter Menschen dabei beraten und bei der Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod begleiten. Ich persönlich habe mich schon vor Jahren entschieden: für eine kleine Karte zur Organspende - und für ein freiwilliges „Ja“ zur Organspende."

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Landesbischof Ralf Meister. Bild: Jens Schulze

Im Vorfeld der Abstimmung hatten sich die Bevollmächtigten des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union und der Leiters des Kommissariats der deutschen Bischöfe – Katholisches Büro in Berlin – in einer gemeinsamen Stellungnahme für die Unterstützung des nun verabschiedeten Gesetzentwurfs ausgesprochen: „Wir sind der Meinung, dass der Staat hier einen zu tiefen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht vornimmt, auch wenn ein Widerspruch möglich ist.“ Bei jeder Weitergabe persönlicher Daten gelte, dass man dieser explizit zustimmen müsse.

Bundesärztekammer-Präsident Klaus Reinhardt hatte dagegen vor der Abstimmung die Unterstützung der Ärzteschaft für den Vorstoß von Spahn und Lauterbach signalisiert. Eine Widerspruchsregelung verschaffe den Menschen auf den Wartelisten für ein Organ Hoffnung, erklärte er. Die weiterhin niedrigen Spenderzahlen zeigten, dass Aufklärungskampagnen allein nicht reichten. Die Widerspruchsregelung nehme die Menschen in die Pflicht, sich für oder gegen eine Organspende zu entscheiden, erklärte der Ärztekammerpräsident.

Ende 2019 warteten laut Deutscher Stiftung Organtransplantation rund 9.000 Menschen in Deutschland auf ein Spenderorgan. 2.995 Spenderorgane wurden laut aktueller Statistik der Stiftung 2019 übertragen - von 932 Spendern.

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Abstimmung im Bundestag über die Widerspruchslösung bei der Organspende. Bild: Screenshot aus Bundestags-Livestream

"Eine Regelung zur Kultur des Landes und zur Bevölkerung passen"

Der Bundestag hat eine Neuregelung der Organspende beschlossen, die vor allem auf mehr Information der Bevölkerung setzt. Wann wäre für Sie ausreichend abgesichert, dass jeder darüber informiert ist?

Inthorn: Es geht nicht um möglichst viele Briefe, Plakate oder Werbespots im Fernsehen. Es geht um die Frage: Wann haben die Leute das verstanden? Das kann man nach einer Kampagne und nach Briefsendungen empirisch in Erfahrung bringen und etwa nach einem Vierteljahr fragen: Wissen Sie überhaupt, was Organspende ist und wie Sie Organspender werden? Solche Dinge sind wissenschaftlich gut nachweisbar. Ich habe vier Jahre in Österreich gelebt, dort gilt die Widerspruchslösung. Beim Überqueren der Landesgrenze greift das Territorialrecht und jeder wird automatisch zum Organspender. Das wissen praktisch alle Österreicher, aber sicher die wenigsten Skiurlauber. Weil man niemanden überrumpeln will, geht man pragmatisch zunächst davon aus, dass ein Urlauber widersprochen hat. Es wird dann aber bei den Angehörigen nachgefragt.

Wie sieht es in anderen Ländern aus?

Inthorn: Wie eine Bevölkerung füreinander einsteht, ist extrem individuell. Man kann das mit dem Steuerzahlen vergleichen: Es gibt vielerorts eine grundsätzliche Annahme von wechselseitiger Solidarität. Dieses Denken haben wir hierzulande im Vergleich nicht so sehr - die Freiheitsrechte sind den Deutschen viel wichtiger. Dass es eigentlich selbstverständlich ist, sich zu helfen, kann man eben nicht verordnen. In Österreich etwa hat sicher auch die Pro-Haltung der katholischen Kirche eine Rolle gespielt. In Spanien ist die Zahl der Organspenden deutlich höher, aber dort herrschen ganz andere Bedingungen als hier. (Organe dürfen dort etwa schon nach einem Herzstillstand entnommen werden, es gibt Transplantationsbehörden auf mehreren staatlichen Ebenen, Anm.d.Red.) Hohe Spenderzahlen gibt es auch in den USA, aber das hat wieder andere Gründe: Dort sorgen ironischerweise unter anderem die Waffengesetze dafür, dass es viele Todesfälle von gesunden, potenziellen Spendern gibt. Und das kann natürlich niemand wollen. Generell muss eine Regelung zur Kultur des Landes und zur Bevölkerung passen. Übertragbarkeit gibt es für mich eher nicht, weil es eine starke kulturelle Komponente hat.

Der Gesetzgeber wünscht sich mehr Organspender und will mit einem Gesetz die Bürger pädagogisch beeinflussen. Gibt es in Deutschland Beispiele für pädagogische Gesetzgebung, die funktioniert - etwa zu Tabak oder Alkohol?

Inthorn: Für die Tabaksteuer kann man das exzellent nachweisen. Sie ist das effizienteste Mittel dafür, Menschen zum Aufhören zu bewegen. Dass es bei der aktuellen Entscheidung um pädagogische Gesetzgebung handelt, zeigen im Übrigen auch die Anhörungen des Bundestages: Da waren Mediziner und Ethiker, aber eben auch Pädagogen eingeladen.

Viele Menschen scheitern schon daran, ihren Mobilfunkvertrag rechtzeitig zu kündigen oder einen anderen Stromanbieter zu wählen. Sie sind zwar frei in ihrer Entscheidung, verpassen es aber, diese rechtzeitig oder in der richtigen Form mitzuteilen. Bei der Organspende hätte dieses Versäumnis aus der Sicht ihrer Gegner dramatische Konsequenzen: Wer nicht spenden will, wird unter Umständen – insbesondere bei der Widerspruchslösung – nach seinem Tod dennoch zum Spender. Welche Rolle spielt dieses Argument in der Debatte?

Inthorn: Wer sich gegen Organspende entscheidet, muss weiterhin nicht aktiv werden. Auch bei der Widerspruchslösung wäre der Einspruch einfach umzusetzen gewesen. Und man müsste eigentlich annehmen, dass sich diejenigen, denen das wichtig ist, auch zu Lebzeiten darum kümmern. Aber eine These für die bislang geringe Zahl der Spender ist die große Gruppe von Menschen, die träge sind und ihren Willen nicht äußern. Bei der Patientenverfügung ist das ganz ähnlich: Viele Menschen haben die Formulare jahrelang zu Hause, füllen sie aber nicht aus. Sie schieben den formalen Schritt vor sich her.

Wie sehen die Position der Landeskirche und der EKD aus?

Inthorn: Es gab dazu ganz klare Äußerungen - sowohl vom Landesbischof als auch vom Berliner Büro der EKD, jeweils gegen die Widerspruchslösung. Sie wird als zu großer Eingriff in die Gestaltung des eigenen Sterbens gesehen. Das Besondere an dieser Debatte: Es gibt keine Grauzone, keine Kompromisslösung, sondern eben nur zwei Möglichkeiten. Man ist für die automatische Spenderschaft oder man ist es nicht. Prominente evangelische Theologen aus dem deutschsprachigen Raum haben schon vor einigen Jahren eine Positionsschrift veröffentlicht: „Pluralität als Markenzeichen“. Dem Text zufolge ist es wichtig, Menschen am Ende eine eigene Entscheidung treffen zu lassen. Evangelische Ethik sei eben plural. Deshalb gibt es in vielen Texten zu ethisch brisanten Themen lange Listen mit Argumenten zum Für und Wider - weil eben immer auch andere Argumentationsmuster denkbar sind. Am Ende ist die Frage: Ist die körperliche Unversehrtheit nach dem Tod wichtig - oder ist es der altruistische Akt ebenso?

Interview: Alexander Nortrup
Die Direktorin des Zentrums für Gesundheitsethik, Dr. Julia Inthorn, hat eine klare Meinung zum Thema Organspende. Bild: Jens Schulze