Freiheit - und wie man sie entdecken kann
Die Darstellung der Archivmeldungen wird kontinuierlich verbessert. Sollten Sie Fehler bemerken, kontaktieren Sie uns gerne über support@systeme-e.de
Wie kann man sich Freiräume schaffen, wenn man frisch in einer neuen beruflichen Aufgabe ist - und als Pastor unter den Augen der Öffentlichkeit arbeitet? Martin Miehlke hat als Berufsanfänger ganz eigene Antworten auf diese Fragen gefunden.
„Ich bin hier jetzt seit zweieinhalb Jahren Pastor. In Havelse ist alles sehr behütet, beinahe dörflich. Man kennt sich. Lokalpatriotismus ist recht ausgeprägt, die Leute wohnen hier gern. Viele sind in den 50er und 60er Jahren als Arbeiter von „Varta“ und anderen Großbetrieben hierher gezogen. Inzwischen sind viele Bewohner Senioren, viele Jobs wegrationalisiert. Bis heute aber bilden der Mittellandkanal und die Bundesstraße 6 die Grenze der Havelser Welt. Ich habe vorher zentral in Hamburg und Hannover gewohnt und musste mich erst einmal darauf einlassen. Aber dass die Vernetzung groß und die Wege meist kurz sind, hat schon viele Vorteile.
Mit den angrenzenden Garbsener Gemeinden Willehadi und Alt-Garbsen arbeiten wir als Versöhnungskirche intensiv zusammen - etwa in der Konfirmand*innen- und Jugendarbeit und bei den Gemeindebriefen. Auch bei Trauungen, Beerdigungen und Taufen wechseln wir uns ab. So hat jeder von uns Pastor*innen meist ein dienstfreies Wochenende im Monat. 2019 haben wir zudem gemeinsam eine neue Gottesdienst-Reihe begonnen: „Freiräume“. Am Sonntagabend um 18 Uhr haben wir alle fünf, sechs Wochen in einer der Kirchen eine große Tafel aufgebaut und gemeinsam ein leckeres Abendbrot gegessen. Im Zentrum stand dabei die Gemeinschaft beim Essen, die Liturgie haben wir ganz anders gestaltet als sonst. Anstelle einer Predigt gab es kurze Geschichten, Impulse und Gedankenbüffets. Den Morgengottesdienst haben wir an diesen Sonntagen bewusst ausfallen lassen - es sollte ja schließlich kein zusätzlicher, sondern ein anderer Gottesdienst sein. Ich fand’ das sehr positiv, vielen in den drei Gemeinden ging es ähnlich. Wir wollen auf jeden Fall etwas davon fortsetzen und überlegen im Moment mit einem Team aus den Gemeinden, wie das gehen könnte.
Freiräume - das Thema beschäftigt mich auch persönlich. Für mich selbst sorgen - darin bin ich noch nicht so gut, wie ich es gern wäre. Oft sage ich zum Beispiel zu schnell „Ja“ - und scheitere dann auch mal daran, meine Versprechen einzuhalten.
Deshalb nehme ich mir seit dem vergangenen Jahr ganz bewusst einen weiteren, scheinbar banalen Freiraum: den Friseurbesuch. Klar - den könnte ich ganz schnell und effizient hier um die Ecke hier in Havelse oder Garbsen erledigen. Ohne Termin schnell rein, nach zehn Minuten wieder raus. Das Ergebnis zählt. Aber ich habe es in diesem Jahr anders probiert - und werde das fortsetzen: Ich mache ganz bewusst einen Termin in Hannover, nehme mir Zeit für mich selbst. Gehe in einen Friseursalon, wo ich beim Shampoonieren manchmal sogar noch eine kleine Kopfmassage bekomme. Und stelle fest: Das tut unglaublich gut. Dass man Freiheiten hat, muss man manchmal erst entdecken.
Auf Vieles im Pastorenberuf wird man durch das Theologiestudium eigentlich nicht vorbereitet. Das Vikariat hilft da schon eher - zwei Jahre und drei Monate, in denen man eine Menge Erfahrungen sammelt. Als Berufsanfänger in meiner ersten vollen Pfarrstelle hier in Havelse hatte in der ersten Zeit dennoch permanent das Gefühl, Dinge zu tun, ohne viel darüber zu wissen. Etwa das erste Mal allein eine Beerdigung zu halten. Da ist schon viel kaltes Wasser mit dabei.
Das Pfarrhaus, in dem wir wohnen, ist zwar eine Querstraße von der Gemeinde entfernt, aber die Adresse ist dort deutlich vermerkt und auch bei uns am Haus gibt es ein Schild. Deshalb klingeln durchaus regelmäßig bei uns Leute, oft sind es Menschen, die bedürftig sind. Wer mich ansonsten erreichen will, hat dazu vielfältig Gelegenheit: Per Mail und Telefon, persönlich werktags im Gemeindezentrum, dazu natürlich vor und nach Gottesdiensten.
Manche Menschen könnte diese Verfügbarkeit abschrecken. Ich persönlich kann mir mittlerweile keinen anderen Beruf mehr vorstellen. Ich möchte genau das tun: Pfarrer sein. Klar ist es ein sehr kommunikativer Job. Es gibt diese Tage, an denen ich nur „on“ bin, nur geredet habe. Dann fahre ich auch mal ganz bewusst woanders zum Supermarkt, um einfach unerkannt zu bleiben. Bei so viel menschlichem Kontakt im Beruf kann das ein sehr heilsamer Freiraum sein. Es gibt außerdem durchaus Leute, die sich für den Inhalt meines Einkaufswagens interessieren. Wenn man Pastor wird, kennt man den öffentlichen Part des Job - und findet ihn eigentlich auch gut. Leute kennen mich, grüßen mich, ich habe viele Beziehungen und genieße das. Mich mit Menschen zu verbinden, ihr Leben zu teilen - das mache ich sehr gern."
---
Martin Miehlke ist 32 Jahre alt und seit Juni 2017 Pastor in der Versöhnungskirche in Havelse in der Region Hannover. Er lebt mit seinem Mann, einem Schauspieler, und dem aus Rumänien stammenden Mischling „Jimmy“ eine Straße vom Kirchgebäude entfernt im Pfarrhaus.