Startseite Archiv Tagesthema vom 07. Januar 2020

Telefonseelsorge: das ganze Jahr über gefragt

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"Man hört Dinge, die man aus keinem Film oder Buch kennt"

Petra Kretschmer (63) ist Pastorin und Pastoralpsychologin (DGfP); Supervisorin und Lehrsupervisorin (DGfP); Onlineberaterin (DGOB). Sie leitet die Telefonseelsorge in Wolfsburg.


Frau Kretschmer, die Telefonseelsorge wird von den christlichen Kirchen getragen, arbeitet aber weitgehend im Verborgenen. Wer ruft bei Ihnen an?
Das sind natürlich oftmals Menschen in Lebenskrisen. Viele von ihnen haben ganz konkrete Fragen und erhoffen sich Antworten. An Weihnachten hat etwa ein Mädchen beim Kinder- und Jugendtelefon angerufen. Die Eltern hatten sich kürzlich getrennt, das Kind aber nur einen Weihnachtsstern in der Schule gebastelt. Mutter und Vater hatten beide einen Baum - nun wusste das Mädchen nicht, bei wem es seinen Stern aufhängen soll und steckte in einem echten Loyalitätskonflikt. Wir haben dann im Gespräch gemeinsam den Plan entwickelt, noch einen kleinen Stern zu basteln, um jeweils einen zu beiden Elternteilen mitzunehmen. So ist unsere Arbeit gedacht: Die Ratsuchenden finden im Gespräch selbst Lösungen, die zu ihnen passen.

Melden sich an Weihnachten und zum Jahresbeginn besonders viele Menschen?
Wir sind ganzjährig Tag und Nacht gefragt. Unsere ehrenamtlichen Mitarbeitenden sind in Schichten à vier Stunden im Einsatz. Grundsätzlich hat aber an Weihnachten und zum neuen Jahr das Thema Einsamkeit eine andere Relevanz. Beziehungskrisen etwa sind dann besonders schwer zu ertragen. Nicht selten feiern Menschen noch zusammen mit ihrer Familie Weihnachten und verkünden dann: ‚Ab 1.1. ziehe ich aus. Ich habe dann eine eigene Wohnung‘. In einer Zeit, in der viele Sehnsucht nach heilem Familienleben haben, haut das natürlich besonders rein.

Ist die Vorstellung falsch, dass sich vor allem Menschen in höchster Verzweiflung, mit konkreten Suizidabsichten, an die Telefonseelsorge wenden?
Ursprünglich ist die Telefonseelsorge in der Tat als Rettungsanker für Lebensmüde gegründet worden. Heute kommt das Thema Suizid bei uns am Telefon statistisch etwa alle ein bis zwei Wochen vor. Nicht wenige Ratsuchende rufen auch regelmäßiger an und suchen einfach jemanden zum Reden. Im Online-Chat und in der Mail-Beratung sind Andeutungen von Todessehnsucht oder deutliche Suizidabsichten sehr viel häufiger. Überhaupt sind online oft deutlich krisenhaftere Themen dran. Viele Ratsuchende wählen lieber die Mail- oder Chatseelsorge als das Telefon, weil sie auch Kontakt- und Beziehungsängste entwickelt haben. Manche sind traumatisiert oder leiden unter Beziehungsstörungen, denen ist der Kontakt über das Telefon oft zu nah.

Zwei Hände tippen auf einem Smartphone. Foto: Free-Photos auf Pixabay

Wie würden Sie selbst die Telefonseelsorge beschreiben?
Es ist ein Ort, an dem man sich die Sorgen von der Seele reden kann, neue Perspektiven und Wege entwickeln kann. Und überlegt, wie erste Schritte aus einer Krise aussehen können. Sowohl am Telefon als auch im Chat und per Mail. Das geht nicht immer, etwa in Trauerphasen nach dem Tod eines Angehörigen. Da kann es tröstlich sein, wenn die Beratenden den Schmerz gemeinsam mit dem Trauernden aushalten. Es geht zunächst darum, mit einem Problem besser leben zu können - nicht für alles eine Lösung zu finden. Das Angebot der Online- und Telefonseelsorge ist stets auf einen Einzelkontakt begrenzt. Mailkontakte können ausnahmsweise bis zu siebenmal stattfinden, bis dahin ist meist das Ziel einer ersten Entlastung erreicht. Auf weitergehende therapeutische Hilfen weisen wir hin, aber diese können wir nicht selbst leisten.

Warum machen Sie selbst diese Arbeit seit so vielen Jahrzehnten?
Für mich ist das eine erfüllende Aufgabe. Und das merke ich auch daran, wie der Chat, das Gespräch und der Mailkontakt laufen. Häufig bedanken sich die Gesprächspartner auch. Wer sich hier engagiert, gehört zu einer Dienstgemeinschaft, vergleichbar einer Großfamilie. Man kann sich durch dieses Ehrenamt selbst weiterentwickeln und wird getragen. In der Ausbildung und im Dienst lernt man lernt sich selbst und andere gut kennen. So wird es ein Gewinn für jeden einzelnen.

Hat sich der Charakter der Telefonseelsorge über die Jahre verändert?
Unbedingt. Ich habe als Studentin, vor mehr als 40 Jahren, auch schon in der Telefonseelsorge ehrenamtlich mitgearbeitet. Da stand das Telefon der Ratsuchenden bei vielen noch in der Stube und alle konnten mithören. Entsprechend gering war das Aufkommen. Heute hat beinahe jeder ein Handy und kann eigentlich immer und von überall anrufen. Es gibt bundesweit mehr als 7.500 Ehrenamtliche - und es werden noch viel mehr gebraucht. Aus meiner Sicht ist vor allem der bundesweite Bedarf für Mail- und Chat-Seelsorge groß. Das kann von den Beratungsstellen derzeit unmöglich abgedeckt werden. Manche Ratsuchende schreiben seitenlange Mails und Chatnachrichten, weil sie massive Probleme haben.

Was ist denn das Profil der Helfenden - also: Wer geht ran, wenn ich bei der Telefonseelsorge anrufe?
Diskretion und Anonymität machen Beratung besser möglich - aber so gibt es leider auch keine Wertschätzung, weil Ehrenamtliche eben nicht in der Zeitung abgebildet werden, wenn sie viele Jahre geholfen haben. Bei uns ist es ein Kreis von Menschen ganz unterschiedlicher Couleur. Manche kirchlich engagiert, teilweise spirituell interessiert, aber nicht unbedingt Mitglieder der Kirche, teilweise auch Atheisten, die aber offen sind für die Ratsuchenden und nicht festgelegt. Wenn ich am Wochenende Weiterbildungen mit freiwilligen Andachten anbiete, werden die meist sehr gut besucht.

Was muss man mitbringen, um als Ansprechpartner am Telefon oder als Onlineberatende  in der Mail- und Chat-Seelsorge helfen zu können?
Zunächst einmal braucht es unsere fundierte Ausbildung mit 120 Stunden plus Hospitationsstunden. Dazu kommen noch Supervision und kollegiale Beratung. Aus meiner Erfahrungen machen das Menschen, denen das Wohl Anderer am Herzen liegt. Eine gewisse sprachliche Ausdrucksfähigkeit ist schon wichtig, klar. Aber Akademiker müssen es nicht sein. Möglichst vorurteilsfrei sollte man sein. Die Jüngste in unserer Einrichtung ist um die 25 und damit eine absolute Ausnahme. Hier in Wolfsburg und auch anderswo sind ansonsten überwiegend Ruheständler und Vorruheständler im Einsatz - eine gewisse Lebensreife und freie Zeit können eben nicht schaden. Man muss nicht alles selbst erlebt haben. Aber man hört oder liest hier auch Dinge, die hat man in keinem Film gesehen und in keinem Buch gelesen. Da sollte man schon ein bisschen Lebenserfahrung mitbringen.

Alexander Nortrup
Pastorin Petra Kretschmer leitet die Telefonseelsorge Wolfsburg (Foto: privat).

Wie ist die Telefonseelsorge organisiert?

Unter der Nummer (0800) 111 0 111 und auf der Website www.telefonseelsorge.de ist die Telefonseelsorge bundesweit täglich rund um die Uhr erreichbar. Rund 7.500 umfassend ausgebildete ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit vielseitigen Lebens- und Berufskompetenzen stehen Ratsuchenden in 105 TelefonSeelsorgestellen vor Ort zur Seite.

Träger der TelefonSeelsorge sind in Deutschland die Evangelische und Katholische Kirche. Die Deutsche Telekom trägt seit 1997 sämtliche Gebühren für die unter den beiden Sondernummern geführten Telefongespräche. Dazu unterstützt das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend die Telefonseelsorge finanziell.

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