Startseite Archiv Tagesthema vom 02. Januar 2020

"Mit ihr braucht es keine Worte"

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Die 23-jährige ambulante Altenpflegerin Anika Niebler ist gehörlos und kommuniziert in Gebärdensprache

Täglich kommt Anika Niebler zu Christa und Erhard Bark. Das Ehepaar lebt im hannoverschen Stadtteil Kirchrode und begrüßt die junge Altenpflegerin bereits im Hausflur mit der Gebärde für "Guten Morgen". Die gehörlose 23-Jährige verabreicht dem 77-jährigen Mann Epilepsie-Medikamente und zieht ihm Kompressionsstrümpfe an. Jeden dritten Tag wechselt sie zudem seine Schmerzpflaster.

"Anika sieht sofort, wie es meinem Mann geht", sagt Christa Bark. "Mit ihr braucht es keine Worte." Zuerst war das Ehepaar unschlüssig. Wie sollte das klappen mit einer Pflegerin, die sie nicht hört? "Aber Anika hat es uns so leicht gemacht", schwärmt Bark. Die junge Frau geht sehr auf die Klienten ein, ihr entgeht nichts. Und einige hilfreiche Gebärden hat das Ehepaar aus der Situation heraus schnell gelernt. Die restliche Kommunikation läuft mit Stift und Papier, Lippenlesen oder einer Handy-App mit Spracherkennung.

Jeden Tag zieht Pflegerin Anika Niebler Erhard Bark die Kompressionsstrümpfe an. Für die Johanniter versorgt sie bei Hausbesuchen Patienten. „Ich brauche Kontakt zu Menschen". Bild: Harald Koch/ epd-Bild

So wie den Barks ging es auch den Johannitern in Hannover. Sie waren sich erst mal unsicher. Doch Niebler fegte alle Vorbehalte bereits im ersten Gespräch vom Tisch. Ihre dreijährige Ausbildung zur Altenpflegerin hat sie gerade abgeschlossen. "Sie hat ein offenes Wesen, ist hochmotiviert und fährt Auto", sagt Johanniter-Sprecherin Sylke Heun. Ihre Einarbeitung ging schnell und problemlos - auch im Vergleich zu hörenden Kolleginnen.

Den Beruf hat sich die junge Frau genau ausgesucht. Zuerst hatte sie es in typischen Arbeitsfeldern für Gehörlose probiert - wo es meist um Handarbeit ohne nennenswerten Umgang mit Menschen geht. Drei Wochen machte sie ein Praktikum in der Schneiderwerkstatt des Hamburger Schauspielhauses, drei weitere Wochen übte sie sich in einem Zahntechniklabor. "Doch das hat mir nicht gefallen. Ich brauche Kontakt zu Menschen", berichtet Niebler in Gebärdensprache, die ihre Mutter Christine übersetzt.

Die damals noch in Tostedt lebende junge Frau absolvierte ein Praktikum in einem Hamburger Altenheim für Gehörlose. Diese Arbeit war genau das Richtige, dorthin musste sich die junge Frau nicht quälen, sondern sie ging mit Freude. Es folgten eine Ausbildung an der Gehörlosenfachschule für soziale Berufe in Rendsburg und der Führerschein dort mit einem erfahrenen Fahrlehrer.

Wenn Pflegerin Anika Niebler ihre Patienten besucht, dann gibt es kleine Gesten statt großer Worte. Bild: Harald Koch/ epd-Bild

Was andere hören, kompensiert sie auf ihre Weise. Geräusche wie Hupen und Martinshörner im Straßenverkehr beispielsweise spürt sie in ihrem Bauch. Das Kompensieren gelingt ihr auch im Arbeitsalltag. Mit ihren Augen nimmt sie viel mehr wahr als Sehende, erläutert Mutter Christine. Sie merkt an der Mimik, ob es stimmt, was ein Klient ihr sagt. Patienten loben sie für ihre Geduld und akkurate Arbeit. Durch Gespräche nebenbei kann Anika Niebler nicht abgelenkt werden: ob beim Waschen, Essen anreichen oder der Gabe von Insulinspritzen.

Hilfe braucht sie nur beim Thema Fortbildung. Sie würde sich gern weiterqualifizieren, auch um mehr arbeiten zu können. Für solch einen Kurs benötigt die junge Pflegerin Unterstützung durch Gebärdendolmetscher, doch diese sind teuer und in Niedersachsen erhalten gehörlose Menschen keine finanzielle Unterstützung. Inklusion bedeutet, dass Politik den Zugang gehörloser Menschen in Beruf und Fortbildung ermöglichen muss. Anika Niebler wird auch für dieses Problem eine Lösung finden.

Stefan Korinth (epd)
Die 23-jährige Anika Niebler ist gehörlos. Sie kommuniziert in Gebärdensprache. Bild: Harald Koch/ epd-Bild

Die Johanniter-Unfall-Hilfe

Die Johanniter-Unfall-Hilfe e.V. ist ein Werk des evangelischen Johanniterordens. Seit Jahrhunderten bildet die Hilfe von Mensch zu Mensch das zentrale Motiv der Johanniter. Und noch immer ist das Bewusstsein der Tradition christlicher Nächstenliebe unser Antrieb. Herausgefordert durch die Nöte und Gefahren unserer Zeit.

Die Johanniter-Unfall-Hilfe betätigt sich in den unterschiedlichsten sozialen und karitativen Bereichen. Unser Engagement reicht vom Hausnotruf über Kinder- und Jugendarbeit bis hin zu internationalen Hilfsprojekten. Dabei steht der Mensch immer im Mittelpunkt. Und so sind es nicht nur die zeitgemäßen Mittel und mehr als fünfzig Jahre Erfahrung, die uns zu einer der größten Hilfsorganisationen Europas gemacht haben, sondern die Menschen.

Allein in Deutschland sind über
10 000 fest angestellte Mitarbeiter für die Johanniter-Unfall-Hilfe e. V. tätig, mehr als doppelt so viele ehrenamtliche Aktive und über 1,5 Millionen Fördermitglieder. Sie alle helfen – aus Liebe zum Leben.

Johanniter.de
Bild: Johanniter-Unfall-Hilfe/Jan Dommel

Gebärdenkirche

Im Bereich der hannoverschen Landeskirche leben etwa 3.000 gehörlose Gemeindeglieder; ihre Sprache ist die Deutsche Gebärdensprache (DGS). Viele Vorgänge der hörenden Welt bleiben gehörlosen Menschen unverständlich – ihr Wortschatz umfasst im Durchschnitt nur ein Viertel dessen, worüber Hörende verfügen können. Zudem ist die Gebärdensprache visuell aufgebaut, ganz anders als die deutsche Lautsprache. Es ist daher notwendig, gehörlosen Gemeindegliedern kirchliches Leben in allen seinen Formen in ihrer eigenen Sprache zu vermitteln. Dieser Aufgabe stellen sich Pastorinnen und Pastoren mit einer zusätzlichen Ausbildung in Gebärdensprache: Zurzeit sind zwei Hauptamtliche in Hannover und Osnabrück tätig, jeweils unter anderem in acht sogenannten Gebärdengemeinden; eine Pastorin der Reformierten Kirche ist für die Arbeit in vier ostfriesischen Gemeinden verantwortlich; zwei Ehrenamtliche in jeweils einer weiteren Gebärdengemeinde.