Startseite Archiv Tagesthema vom 30. November 2018

"Mit Großstadt können Sie mich jagen"

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Die Kampagne "UNERHÖRT" der Diakonie gibt Menschen wie Klaus-Dieter Gubig eine Stimme

Einen kleinen Rucksack und einen Einkaustrolley, darin Kleidung, Duschzeug und Handtücher. Mehr hatte Klaus-Dieter Gubig nicht dabei, als er vier Jahre lang als Wohnungsloser durch Deutschland gefahren und gewandert ist. „Möglichst wenig dabei haben ist gut, denn die meisten Wohnungslosen schleppen große Rucksäcke mit sich rum, die werden deswegen oft kontrolliert. Bei mir dachten viele Polizisten, ich käme gerade vom Einkaufen“, erklärt er.

Ursprünglich kommt Klaus-Dieter Gubig aus Einbeck. Hier hat er gelebt und als Bestatter gearbeitet, bis er wohnungslos wurde. „Ich habe zu viel getrunken und die Miete nicht bezahlt. Ich hatte zwar einen sehr sozialen Vermieter, aber irgendwann ist auch für den sozialsten Vermieter Schluss. Meine Arbeit habe ich verloren, weil ich zu oft betrunken hingegangen bin“, erzählt Klaus-Dieter Gubig.

Zunächst sei er bei einem Kollegen untergekommen, doch nachdem dies nicht mehr ging und er keine Wohnung gefunden hatte, beschloss Gubig, nach Berlin zu fahren. „Berlin war für mich eine Katastrophe. Ich wurde von einem Ort zum nächsten geschickt, ich wusste nicht, wo was ist, musste alles erstmal suchen. Zum Beispiel, wo ich Geld bekommen oder mich als wohnungslos registrieren lassen kann“, sagt Gubig.

In Berlin durfte er nur drei Tage bleiben, dann musste er weiterziehen. Zunächst ging er in eine Unterkunft nach Oranienburg, wo er vier Wochen blieb. Danach ist er zurück nach Niedersachsen gefahren und von Ort zu Ort gewandert. Wenn er in einen neuen Ort kam, war seine erste Anlaufstelle das Pfarrhaus oder die Polizei, da ihm dort meistens schnell erklärt wurde, wo er eine Unterkunft und Geld bekommen konnte. 

Klaus-Dieter Gubig in der Küche des ambulanten Rastplatzes der ambulanten Wohnungslosenhilfe Melle. Bild: Konstanze Schneider

Die Übernachtungsmöglichkeiten habe er dabei jedoch nicht immer in Anspruch genommen. „Viele Unterkünfte waren einfach so dreckig, dass ich da nicht mal meinen schlimmsten Feind reinschicken würde. Ich hatte einen guten Schlafsack, damit konnte ich auch bei Minusgraden draußen schlafen. Im tiefsten Winter geht das gut vor Geschäften, da kommt oft heiße Luft unter den Türen raus. Ein Juwelier hat sogar mal einen Kumpel und mich gefragt, ob wir bei ihm übernachten können, weil er sich dann den Wachschutz sparen kann. Denn wenn wir davor liegen, bricht keiner ein. Am nächsten Morgen kam er dann mit Brötchen und Kaffee für uns“, berichtet Gubig.

Seit April 2017 lebt er nun in Westerhausen, einem kleinen Ort bei Osnabrück. Dort hat er mit Unterstützung der ambulanten Wohnungslosenhilfe der Diakonie in Melle eine Übergangswohnung gefunden. Hier oder in Melle möchte er eine feste Wohnung finden. „In Westerhausen habe ich mich richtig verliebt. Da hat man alles, was man braucht, ist ein schönes kleines Nest“, erzählt er. „Mit Großstadt können Sie mich jagen, da würde ich wahnsinnig werden. Da wohnt man zehn Jahre und kennt immer noch nicht alle Straßennamen. Überall muss man extra hinlaufen, und es dauert, bis man weiß, wo was ist, wo man was kriegt. Die Netzwerke sind in kleineren Städten einfach besser“, sagt Gubig. Doch überhaupt einen Termin mit einem Vermieter zu bekommen sei für ihn sehr schwer – egal, ob in der Stadt oder auf dem Land, denn überall werde der Wohnraum knapp. Viele Vermieterinnen und Vermieter hätten außerdem Vorurteile gegenüber ehemals Wohnungslosen und Hartz-IV-Empfängern.  

Um sich den Tag zu strukturieren und aus seiner Wohnung herauszukommen, beaufsichtigt Klaus-Dieter Gubig seit November 2017 den sogenannten Rastplatz der ambulanten Wohnungslosenhilfe Melle. Hier können sich wohnungslose Personen in den Nachmittagsstunden aufhalten, wenn die Beratungsstelle geschlossen ist. Gubig achtet darauf, dass die Hausordnung eingehalten wird – dazu gehört zum Beispiel, dass in der Wohnung nicht getrunken werden darf. Außerdem bezieht er die Betten und wäscht Handtücher und Bettzeug. „Herr Gubig interessierte sich für diese Arbeit und wollte Verantwortung übernehmen. Auch wir konnten uns dies gut vorstellen, und so kam es zu der Vereinbarung. Wir kennen ihn schon länger als zuverlässige Person, und er kennt das Leben von wohnungslosen Menschen. Deswegen findet er einen guten Zugang zu ihnen und kann sich, wenn nötig, durchsetzen“, berichtet Verena Niemeyer, Leiterin der ambulanten Wohnungslosenhilfe.

Sie und ihre Mitarbeitenden unterstützen Klaus-Dieter Gubig und die etwas mehr als 30 Wohnungslosen in Melle sowie Menschen, die von Wohnungslosigkeit bedroht sind, bei der Wohnungs- und Arbeitssuche und bieten Beratung in gesundheitlichen und nanziellen Fragen an. „Dafür arbeiten wir eng mit anderen Fachdiensten und Fachkräften zusammen. Wir versuchen, gemeinsam mit den Menschen ein unterstützendes Netzwerk zu bilden, um ihnen den Weg in einen neuen Lebensabschnitt zu ebnen“, erklärt Verena Niemeyer.

Auch Klaus-Dieter Gubig hilft sie bei der Arbeitssuche: „Ich würde gerne wieder auf dem Friedhof arbeiten, nicht unbedingt als Bestatter. Aber Gräber pflegen oder ähnliches kann ich mir gut vorstellen“, sagt er. „Mit 53 Jahren möchte ich an einem Ort bleiben und nicht mehr ständig unterwegs sein – dafür fühle ich mich jetzt zu alt.“ 

Konstanze Schneider, Diakonie in Niedersachsen
Bild: Diakonie/ Kathrin Harms

UNERHÖRT!

Woche der Diakonie vom 1. bis 8. September 2019

Die neue Kampagne der Diakonie irritiert. Warum sind Wohnungslose, Flüchtlinge, Alltagshelden oder Alte unerhört? Nach kurzem Nachdenken wird einem die Doppeldeutigkeit des Kampagnen-Claims bewusst. Es stimmt: Viele Menschen fühlen sich mit ihren Problemen nicht gehört. Die wenigsten suchen das Gespräch mit anderen. Vielmehr wird in der Anonymität des Internets lautstark geschimpft und bei Wahlen den sogenannten etablierten Parteien ein „politischer Denkzettel“ verpasst.

„Mit unserer Kampagne machen wir Wahlkampf für eine offene, lebendige und vielfältige Gesellschaft“, erklärt Diakonie-Präsident Ulrich Lilie. „Viele fühlen sich an den Rand gedrängt in einer immer unübersichtlicheren Welt, in der das Tempo steigt und Gerechtigkeit auf der Strecke zu bleiben droht.“ In einem der Kampagnen-Claims werden alte Menschen als unerhörte Personengruppe bezeichnet. Etwa 16% der Rentner und Pensionäre sind armutsgefährdet, eine Zahl die in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen ist. Frauen sind stärker gefährdet als Männer. Dazu kommt, dass familiäre Netzwerke sich verändert haben und viele alte Menschen sich einsam fühlen.

Diakonie in Niedersachsen

Musikvideo zur Kampagne

Konfis können mitmachen!

Auch Konfirmanden können die Kampagne begleiten und finden Material auf einer Internetseite.