Wächter sein und Hörende
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Andacht zum 10. Sonntag nach Trinitatis
Jerusalem braucht Wächter. Das wusste schon Jesaja. Tag und Nacht. Die sich keine Ruhe gönnen und die Gott keine Ruhe lassen. Uns Christen darf Israel keine Ruhe lassen. Weil Israel und Jerusalem Heimat für Juden und Jüdinnen auf der ganzen Welt ist. Ganz physisch als sichere Heimat, aber auch religiös. Wenn wir Christen das vergessen, dann vergessen wir unsere Wurzeln und unsere Verantwortung.
Nicht dass wir die Wächter Jerusalems wären, die hier vom Propheten Jesaja aufgerufen werden. Die jüdische Tradition hat in den Rabbinern und jüdischen Gelehrten diese Wächter wiedererkannt. Sie sollen sich Tag und Nacht um Gerechtigkeit und die rechte Auslegung der Tora kümmern und auch Gott dabei in den Ohren liegen. Das ist ein schönes Bild für die Verantwortlichen in Sachen Religion: Wächter auf der Mauer zu sein, die sich und Gott Tag und Nacht keine Ruhe gönnen und nach dem Wohl der Stadt und der Menschen suchen.
Diese Prophetenrede gibt auch einen Impuls für uns Christen heute. Stellen wir uns doch einmal bildlich gesprochen neben diese Wächter auf die Mauer. Unsere Blickrichtung wird dabei aber eine andere sein als die bei Jesaja. Unser Blick muss in unsere eigene Richtung gehen, vor unsere eigene Haustür.
Welche Steine müssen da beiseite geschafft werden? Sind wir wachsam genug, was den aufkeimenden Antisemitismus und Judenhass in Deutschland anbelangt? Sind wir wach genug, nicht selbst in Klischees über Juden und Jüdinnen oder „das Judentum“ zu verfallen? Erinnern wir uns gegenseitig genug daran, dass das alte unsägliche Muster vom zornigen Gott des Alten Testaments und dem liebenden Gott des Neuen Testaments doch endlich überwunden ist?
Halten wir kurz inne. Denn wir sind ein bisschen vorschnell gleich auf die Mauer Jerusalems gestiegen und haben uns von den Wächtern inspirieren lassen. Das war auch durchaus ergiebig, ein Wächteramt für uns identifiziert zu haben.
Aber ursprünglich, im biblischen Sinn, haben wir in dieser großen prophetischen Szenerie, einen ganz anderen Platz: Nicht auf der Mauer, sondern vor den Toren der Stadt, bei den Völkern.
Wir neigen dazu, diese visionäre prophetische Aufgabe sehr schnell auf uns als Kirche zu beziehen. Uns kommt aber in dieser Rede eine ganz andere Aufgabe zu, nämlich erst einmal zu hören, und zwar von weiter weg: Nicht von den Mauern Jerusalems her, sondern von den Enden der Erde. Das ist eine Rolle, die für uns etwas ungewohnt ist. Ich kann aber viel damit anfangen: Im Blick auf unsere Wurzeln im Judentum heißt Christ sein erst einmal hören.
Hören ist also das Erste, was wir zu tun haben. Das schließt auch ein: Wahrnehmen, was dem Anderen heilig ist. Unterschiede respektieren. Gemeinsamkeiten entdecken. Da sind wir noch ziemlich auf dem Weg – und nicht alle Steine sind aus dem Weg geräumt.
Es kommt auf die Ausrichtung unserer Herzen an. Als Wächter gegen judenfeindliche Worte und Taten bei uns, als Hörende auf die Verheißung des Propheten für das schwer umkämpfte Jerusalem: „Siehe, der HERR lässt es hören bis an die Enden der Erde: Sagt der Tochter Zion: Dein Heil kommt!“. Wir spielen dabei eine schöne Rolle: als die, die Gott für diese große Friedensvision loben und preisen.
Amen.
Pastorin Dr. Adelheid Ruck-SchröderDr. Adelheid Ruck-Schröder, Studiendirektorin des Predigerseminars im Kloster Loccum