Startseite Archiv Tagesthema vom 30. Juni 2018

„Seid getrost und unverzagt!“

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Predigt von Margot Käßmann im Abschiedsgottesdienst

Liebe Gemeinde,

was wäre ein guter Predigttext an so einem Tag? Vielleicht die Seligpreisungen – die liebe ich besonders. Oder ein Gleichnis – das ist immer eine gute Vorlage. Aber dann sagte einer von Ihnen: „Margot, wir erwarten nicht nur Rückschau, sondern einen Blick nach vorn!“ Und da kam mir Mose in den Sinn.

Im fünften Buch Mose wird über mehrere Kapitel hinweg erzählt (31-34), wie diese große Gestalt der biblischen Geschichte sich auf seinen Abschied und auch auf den Tod vorbereitet. Gott hatte ihn das Land, das verheißen war, noch sehen lassen, von einem Berggipfel aus. Aber Gott hat auch klar gemacht, dass Mose dieses Land selbst nicht betreten würde, sondern Josua das Volk Israel auf der letzten Etappe führen sollte.

Und Mose? Er könnte ja jetzt hadern: Ich habe so viel geleistet, das ist ungerecht. Oder: Niemand kommt heran an meine Führungsqualität, ich werde gebraucht! Aber nein, er beschwert sich nicht, sondern akzeptiert in aller Ruhe, dass seine Zeit vorbei ist. Zuallererst setzt er Josua ganz offiziell als seinen Nachfolger ein. Danach hinterlässt er ein Ritual, durch das sich die kommenden Generationen an den Weg Gottes mit seinem Volk erinnern sollen. Ein Land braucht Erinnerungskultur! Und dann ermutigt Mose alle miteinander: „Seid getrost und unverzagt“ (5. Mose 31,7). Das finde ich wunderbar!

Aber, liebe Gemeinde, keine Angst, ich weiß, ich bin nicht Mose ;-). Und ich weiß auch, dass dies heute schlicht ein Abschied aus dem Amt und nicht meine Trauerfeier ist. Aber dieses Bild, auf dem Berg zu stehen, zurück zu schauen und gleichzeitig nach vorn zu sehen, ist eine schöne Idee: Ein Mensch darf einen Blick auf die Zukunft werfen, die voller Hoffnung ist. Eine Zukunft aber, die er selbst nicht mehr gestalten wird.

Nun müssen wir sagen: So gelobt war das Land am Ende ja gar nicht. Das Volk Israel siedelte sich nach der biblischen Erzählung zwar an, hatte aber schwere Zeiten vor sich, wurde schließlich im Jahr 70 nach Christus vertrieben in alle Welt. Erst nach der Katastrophe des Holocaust, der Shoa, konnte 1948 ebendort der Staat Israel gegründet werden. Und auch heute durchlebt Israel schwere Zeiten, von außen angefeindet, innerlich oft zerrissen, ohne konkrete Aussichten auf ein Zusammenleben in Frieden. Was also hat Mose gesehen? Er hatte sein Volk aus der Sklaverei in Ägypten in die Freiheit führen wollen. Nach 40 langen Jahren in der Wüste erreicht es endlich das Land, in dem „Milch und Honig fließen“. Mose hat vom Berg Horeb aus also gesehen, wie es sein könnte, ein friedliches Zusammenleben der Menschen, ausreichend Nahrung für alle. Freiheit, den Glauben zu leben und ja, Glück – dafür stehen wohl Milch und Honig. Es war eine Vision vom guten Leben.

Natürlich ist die Mose-Erzählung kein historischer Bericht. Aber sie ist großartig geschrieben und sie hat tiefe Spuren hinterlassen. Sie berichtet von einem Mann, der voller Gottvertrauen seinen Weg gegangen ist. Mir ist wichtig, dass die Mosegeschichte klar macht: Verantwortung ist auf Zeit verliehen. Wir sollten sie wahrnehmen, aber auch abgeben können. Es ist eine innere Freiheit, loslassen zu können und darauf zu vertrauen, dass andere den eingeschlagenen Weg weitergehen werden.

In unserem Zeitalter des Individualismus meint jeder Mensch, absolut einzigartig sein zu müssen. Durch Leistung, durch Kleidung, oder durch Tattoos. Da kann es guttun, sich im Zusammenhang mit anderen zu sehen: Ich bin schlicht Teil einer Tradition, einer Familie der Kinder Gottes, einer Kette der Weitergabe des Glaubens. Auch der Tod hat dann eine andere Bedeutung. Ich lebe den mir zur Verfügung stehenden Lebensabschnitt bewusst. Aber dann kann ich mein Leben auch wieder zurückgeben in die Hand Gottes. Wer an ewiges Leben glaubt, muss in dieser kurzen Erdenzeit auch nicht alles leisten! Das ist sehr entlastend, finde ich. Dabei ist für mich Glaube gerade nicht Opium des Volkes, wie Karl Marx das gesehen hat. Es ist gerade nicht eine Selbstbetäubung, weil ich mit dem Unrecht dieser Welt nicht fertig werde und mich daher auf eine bessere Welt vertröste. Nein, der Glaube an Gott ermutigt geradezu, sich aufzubäumen gegen das Unrecht dieser Welt, weil wir als Christinnen und Christen schon hier und jetzt Zeichen setzen wollen für Frieden und Gerechtigkeit, wie Gott sie verheißen hat. Weil wir Visionen davon haben, Bilder, die uns zeigen, wie es aussehen könnte, das Gelobte Land.

Natürlich gibt es dabei immer wieder Enttäuschungen. Aber die bringen uns nicht zum Verzweifeln. Denn wir sind uns bewusst, dass Menschen verführbar sind wie Adam und Eva, dass sie zu Gewalt neigen, seit Kain und Abel. Dass sie größenwahnsinnig sind wie beim Turmbau zu Babel. Trotzdem wird seit den Zeiten des Mose eine Vision davon tradiert, dass es anders sein könnte, dass Menschen in Frieden und Gerechtigkeit, in Freiheit und ohne Hunger leben könnten. Diese Vision treibt Christinnen und Christen in jeder Generation neu an. Und so entfaltet das Bild von Mose auf dem Berg immer neu seine Kraft.

Am berühmtesten zeigt sich das wohl in der Rede Martin Luther Kings vor 50 Jahren am 3. April 1968, dem Abend vor seiner Ermordung, in der er sich auf Mose bezieht: „ (…) ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen. Ich mache mir keine Sorgen. Wie jeder andere würde ich gern lange leben. Langlebigkeit hat ihren Wert. Aber darum bin ich jetzt nicht besorgt. Ich möchte nur Gottes Willen tun. Er hat mir erlaubt, auf den Berg zu steigen. Und ich habe hinübergesehen. Ich habe das Gelobte Land gesehen. Vielleicht gelange ich nicht dorthin mit euch. Aber ihr sollt heute Abend wissen, daß wir, als ein Volk, in das Gelobte Land gelangen werden. Und deshalb bin ich glücklich heute Abend. Ich mache mir keine Sorgen wegen irgendetwas. Ich fürchte niemanden. Meine Augen haben die Herrlichkeit des Herrn gesehen.“ Eine absolut faszinierende Rede, deren Kraft und Emotion über die Jahrzehnte hinweg wirkt.

Jahrtausende nach Mose hat also ein US-amerikanischer Baptistenpfarrer eine ähnliche Vision. Er hat Rassismus erlebt, Erniedrigung und die Unfähigkeit seines Landes, in Vietnam Frieden zu schließen. Seine Hoffnung war, dass eines Tages Menschen unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe in den USA friedlich und respektvoll, ja gleichberechtigt miteinander leben würden. Das „Gelobte Land“ war für ihn ein Land, in dem seine vier Kinder ohne Rassismus aufwachsen. Wir wissen alle, wie weit entfernt die USA heute davon sind.

Immer wieder sind Menschen ihren Lebensweg bewusst mit Gott gegangen. Immer wieder hatten sie Visionen, Hoffnung auf Gerechtigkeit und Frieden, auf ein gutes Leben für alle. Ja, ich weiß, Helmut Schmidt soll einmal gesagt haben, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen. Aber ich bin überzeugt, ohne Visionen können wir gar nicht leben. Wenn wir keine Hoffnungsbilder kennen, auf die wir hinarbeiten, wozu sich dann engagieren? Es sind Hoffnungsbilder von Freiheit, die doch bis heute Menschen umtreiben, ja antreiben, sich auf die weite Reise zu machen vom Senegal nach Europa, die Menschen das eigene Leben aufs Spiel setzen lassen, um endlich in Frieden leben zu können. Statt der Hoffnungsbilder malen heute viele gern Schreckensbilder, wollen Wahlen gewinnen mit Bedrohungsszenarien. Dagegen bäumen sich Christen auf!

In die Hoffnung auf das Gelobte Land können wir unser eigenes Leben gut einordnen. Ich muss gar nicht so herausragend sein. Gott vertraut uns eine Etappe an, die wir mitgestalten können. Jeder und jede von uns hat dabei bestimmte Gaben, die abgerufen werden. Das hat uns Martin Luther sehr klar gemacht, wir alle können etwas beitragen, jeder und jede hat einen Beruf, eine Berufung. Ich habe mir als Jugendliche ganz bestimmt nicht vorstellen können, Bischöfin zu werden, zumal ich noch nicht einmal eine Pfarrerin kannte. Heute gebe ich die offiziellen Funktionen alle wieder ab. Ob ich vorher das „Gelobte Land“ gesehen habe? Mein erster Gedanke war: Nein! Aber vielleicht genügen auch Erfahrungen, die Hoffnung machen.

Eine meiner ersten politischen Erfahrungen war der Einmarsch der Sowjetunion in der Tschechoslowakei. Meine Eltern hatten Angst. „Der Russe kommt“ – soweit war Prag nicht weg. Als das Ende der Sowjetunion nahte und Alexander Dubcek, die Leitfigur des Prager Frühlings 1989 zum Präsidenten des Bundesparlamentes gewählt wurde, habe ich so etwas wie Gerechtigkeit in der Geschichte erlebt. Oder ich denke an Nelson Mandela, der nach 27 Jahren im Gefängnis mit einem Lächeln auf dem Gesicht, statt der erwarteten Bitterkeit, seinen politischen Gegnern die Hand zur Versöhnung reichte und damit das Ende der Apartheid in Südafrika eingeläutet hat. Ich denke an die friedliche Revolution in der DDR, die von so vielen mutigen Menschen, gerade auch den Christinnen und Christen getragen wurde. Die Mauer fiel – ohne Gewalt. Das sind doch Zeichen für das Gelobte Land. So könnte es sein, da zeigt sich etwas von Gottes Zukunft. Wie es in dem schönen Lied heißt: „Wir haben Gottes Spuren festgestellt auf unsern Menschenstraßen…“. (Diethard Zils)

Es gab auch Enttäuschungen, natürlich. Dass nach 1989 nicht alle Energie und alles Geld in eine weitere Entspannung, mehr Gerechtigkeit investiert wurde und stattdessen die Konfrontation zwischen Ost und West wieder wächst und Menschen noch immer hungern – das tut weh. Die Niederschlagung der Demokratiebewegung in China, das Ende des arabischen Frühlings, der Krieg in Syrien, das Gebaren eines Donald Trump, dieses Gehetze gegen Flüchtlinge in Deutschland und der Hass, der sich bei uns hemmungslos breitmacht - das schmerzt. Aber solche Rückschläge haben ja auch unsere Mütter und Väter im Glauben erlebt.

Was wäre das für ein Leben, in dem es immer nur Gelingen oder Erfolg gibt? Wäre das erstrebenswert? Wladimir Kaminer hat in einem Buch den biblischen Adam am Tor des Paradieses mit einem gewissen Seufzer zurück schauen lassen, denn Adam war „in seiner unsterblichen Seele eigentlich froh, dass endlich etwas passierte in seinem Leben. In Gottes Paradies zu sitzen, Kunst zu machen, sich Weisheiten anzuhören und die Tierchen zu füttern ist auf alle Ewigkeit doch etwas eintönig, fand Adam.“ Immer nur im Paradies leben, das wäre auf Dauer langweilig – ein interessanter Gedanke! Ja, der Mensch sehnt sich nach dem Paradies, nach Glück auf Dauer. Damit machen Urlaubsanbieter ja ständig Reklame, sie bieten das Land, in dem Milch und Honig fließen auf Zeit und für Geld an. Aber ob der Mensch das wirklich wollte, ständig nur Glück und Harmonie, Frieden und Gerechtigkeit? Wofür würde sich ein Mensch dann noch engagieren, wofür kämpfen? Gewiss, Rückschläge tun weh, Enttäuschungen schmerzen, Tiefschläge verletzen. Aber ein keimfreies Leben ohne Narben und ohne Niederlagen bedeutet ja nicht, ein gelingendes Leben zu führen. Ein Freund sagte neulich: „Wenn ich gewusst hätte, dass ich noch einmal so glücklich werden könnte wie heute, wäre ich damals nicht so unglücklich gewesen.“ Ich musste lachen, denn genau das ist ja Altersweisheit.

Ja, wir brauchen Hoffnungsbilder von Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Jesus hat sie in seinen Gleichnissen wunderbar überliefert. Sie helfen uns, quer zu denken, neue Wege zu wagen, wo andere starr am Alten festhalten. Wir brauchen Hoffnung auf Gerechtigkeit und Frieden, die uns antreibt in kleinen Schritten weiterzugehen, auch wenn momentan alles sinnlos erscheint. Wir können unsere kleinen Schritte einordnen in ein großes Ganzes, in die Hoffnung auf das Gelobte Land.

Das gilt auch für unsere Kirche. Letzten Samstag war ich bei einem Konzert von Billy Joel. Mehrere 10tausend Menschen waren glücklich, haben mitgesungen, sich angelächelt – und sogar noch dafür bezahlt! Hmmm, habe ich gedacht, das müsste unsere Kirche doch auch können! Wir haben ja noch viel Bewegenderes zu vermitteln als diese in der Tat großartige Musik. Es geht um Lebenssinn, den Bezug zu Gott, den Glauben an Jesus, der am Kreuz starb und dem wir uns deshalb anvertrauen können im Leben und im Sterben. Ich wünsche mir, dass wir als Christinnen und Christen, als Kirche diese Botschaft fröhlich, lebensnah, mit Begeisterung vermitteln.

Lebenserfahrung aber bedeutet aber auch: Wir werden das Gelobte Land immer nur von Ferne sehen, die perfekte Kirche wohl auch. Es wirklich zu erreichen, würde doch auch der Hoffnung und der Sehnsucht, die uns im Leben antreiben, ein Ende setzen. Es tut gut, Ziele zu haben, Herausforderungen anzunehmen, sich zu engagieren.

Getrost sein, getröstet also, das heißt doch: Rückschläge gibt es. Haltet das aus! Stellt euch ein eine Reihe mit unseren Müttern und Vätern im Glauben. Gebt die Hoffnung nicht auf, dass unsere Welt eine bessere werden kann. Wir brauchen Weltverbesserer, auch wenn das für manche inzwischen ein Schimpfwort ist. 

Und sei unverzagt! Verzagen wir nicht als Kirche angesichts der Herausforderungen. „Wir sind es nicht, die die Kirche erhalten“, das wusste schon Luther. Gott erhält die Kirche und wird bei uns sein bis an der Welt Ende. Also los, auf, nicht zurückziehen, sondern mutig Gottes Wort in die Welt sagen. Das kann anecken, oja! Aber genau das ist nötig in einer so verzagten Welt, die nur noch Probleme sieht, die nur noch auf das Misslingen starrt, sich aber nicht mehr freut an dem, was möglich ist.

Anders als all die Schlechtredner, Miesmacher, Gewaltandroher, Rassisten, Menschenrechtsverächter und Freiheitsfeinde werden wir die Vision vom Gelobten Land immer wieder umsetzen in kleinen Schritten. Und wir werden uns nicht entmutigen lassen, denn wir haben Hoffnungsbilder. Gerechtigkeit und Frieden werden sich küssen. Sie werden nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Selig sind, die reinen Herzens sind. Diese Hoffnungsbilder werden uns tragen und die Generationen, die nach uns kommen. Insofern: „Seid getrost und unverzagt!“

Amen.

Im Interview!