Startseite Archiv Tagesthema vom 23. Mai 2018

"Bei sexualisierter Gewalt gibt es keinen Spielraum"

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Frau Dagott, Sie arbeiten als Präventionsbeauftragte in der Ansprechstelle der Landeskirche Hannovers für Opfer sexualisierter Gewalt. Was ist die Grundlinie der Landeskirche beim Umgang mit dem Thema sexualisierter Gewalt?

Die Landeskirche Hannovers arbeitet seit dem Bekanntwerden der sog. Missbrauchsskandale im Jahr 2010 intensiver zum Thema Prävention sexualisierter Gewalt und hat sich zu dieser Thematik klar positioniert. Als Landeskirche tolerieren wir zu keinem Zeitpunkt sexualisierte Gewalt in kirchlichen Arbeitsbereichen. Zudem ist uns Transparenz im Umgang mit erlittener sexueller Gewalt besonders wichtig. Dabei greift die Landeskirche auf inzwischen zahlreich vorhandene wissenschaftliche Erkenntnisse zurück und agiert nicht aus dem Bauch heraus. Deshalb lässt sich ganz eindeutig sagen, wann sexualisierte Gewalt beginnt und was ein sexueller Übergriff ist. Hier gibt es keinen Spielraum und schon gar kein subjektives Empfinden.

In einem Artikel für die Nachrichtenagentur idea, der als Essay auch auf der Internetseite der Landeskirche Hannovers veröffentlicht wurde, schreibt Pastor Peer Schladebusch über den Rücktritt von Bill Hybel, der leitender Pastor der Willow Creek Community Church in den USA gewesen ist. Hybel wurde vorgeworfen, dass er sich Mitarbeiterinnen und weiblichen Gemeindegliedern gegenüber anzüglich verhalten bzw. sie sexuell belästigt haben soll. Schladebusch schreibt, dass es „keine weißen Schafe gibt, nur begnadigte Sünder.“

Die Argumentationslinien von Herrn Schladebusch sind mir absolut unverständlich. Er spricht von Anfang, Verfall und Neuorientierung und setzt in diesem Zusammenhang fehlendes betriebswirtschaftliches Knowhow mit individuellem (delinquentem) Verhalten gleich. Er spricht von Gnade und Vergebung, als würden wir uns in einem rechtsfreien Raum bewegen. Diese Zeiten habe wir lange hinter uns gelassen und selbstverständlich leben wir gemeinschaftlich in Anerkennung unserer freiheitlichen Grundwerte in einer multikulturellen Gesellschaft zusammen. Die Landeskirche Hannovers agiert zweifelsfrei nach diesen Werten und fordert auch nach Maßgabe des geltenden Rechts präventive Maßnahmen zum Schutz vor sexualisierter Gewalt ein. Zudem ist klar formuliert, dass für die Landeskirche Hannovers niemand tragbar ist, der die sexuelle Selbstbestimmung eines anderen verletzt.

Cindy Dagott ist seit 2017 Präventionsbeauftragte in der Ansprechstelle der Landeskirche für Opfer sexualisierter Gewalt. Bild: Jens Schulze

Peer Schladebusch fragt in seinem Artikel auch, ob Personen, die eine geistliche Leitungsfunktion einnehmen, „überhöht“ werden.

Niemand überhöht Leitungskräfte, indem man ihnen aufgrund ihrer Position mehr Versuchungen zumutet! Keiner von uns weiß, ob es sich im Fall von Bill Hybels um üble Nachrede handelt oder nicht. Aber, es gibt Grenzen und inzwischen zahlreiche präventive Maßnahmen, die auch Leitungskräfte vor falschen Verdächtigungen schützen. Hierfür ist es jedoch wichtig, die Thematik der Prävention von sexualisierter Gewalt in allen Ebenen bekannt zu machen, was die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dieser Thematik voraussetzt.

Verharmlost Peer Schladebusch in seinem Artikel den Umgang mit sexualisierter Gewalt?

Mir scheint, dass Herrn Schladebusch in diesem Kontext gar nicht klar ist, dass Bill Hybel bereits selbst verstanden hat, sich in der Vergangenheit falsch verhalten zu haben. Herr Schladebusch erfasst mit seiner Argumentation einfach nicht die Tiefe und argumentiert in einer Art und Weise, die wir in der Landeskirche schon lange hinter uns gelassen haben. Deshalb distanziere ich mich als Präventionsbeauftragte der Landeskirche Hannovers auch ganz deutlich von den Aussagen und Formulierungen seinem Artikel. 

Was können wir in der Kirche tun, um möglichst sensibel mit dem Thema sexualisierte Gewalt umzugehen?

Zunächst ist es wichtig, Fachwissen über sexualisierte Gewalt zu vermitteln. Jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter, die/der mit Kindern, Jugendlichen oder anderen Schutzbefohlenen arbeitet, muss wissen, was sexualisierte Gewalt ist und wie sich diese verhindern lässt. Dies schließt Informationen über die Häufigkeit der Straftaten ebenso ein wie die Definition von sexualisierter Gewalt. Was ist demnach der Unterschied zwischen dem sexuellen Missbrauch von Kindern (§ 176) und dem schweren sexuellem Missbrauch von Kindern (176a)? Was unterscheidet die Nötigung von der Vergewaltigung? Darf ich als 16jähriger Teamer meine 14jährige Freundin, die an der Freizeit teilnimmt und mit der ich schon lange zusammen bin, küssen und umarmen? Was bedeutet eigentlich sexuelle Selbstbestimmung? Welche Täterstrategien gibt es? Was begünstigt sexuelle Gewalt? Was ist eine Risikoanalyse? Wie verbindlich ist ein Verhaltenskodex?

Was ist noch wichtig?

Hierfür braucht es vor allem die Bereitschaft, sich mit dem - doch sehr belastenden Thema - sexualisierte Gewalt auseinanderzusetzen und zu verstehen, dass dieses Thema nichts mit der eigenen Sexualität zu tun hat. Weshalb Schamgefühle oder ein Gefühl von verletzter Intimsphäre hier völlig fehl am Platz sind.

Darüber hinaus muss verstanden werden, dass diese Taten nichts mit dem christlichen Glauben, wohl aber mit der Ausübung von Macht zu tun haben. Sehr wohl haben in der Vergangenheit auch Pastorinnen/Pastoren, Diakoninnen/Diakone oder Erzieherinnen/Erzieher sexualisierte Gewalt während ihres beruflichen Wirkens ausgeübt. Diese sexualisierte Gewalt wurde jedoch nicht im Sinne des evangelisch-lutherischen Glaubens verübt, sondern weil die Täterin oder der Täter aufgrund ihrer/seiner Position Macht über ein Kind, einen Jugendlichen oder einen anderen Schutzbefohlenen hatte, die sie/er zu ihrem/seinem Vorteil ausnutzen konnte.

In der Praxis geht es demnach darum, die Fachkräfte zu schulen und zu sensibilisieren, und das berufliche Wirken in präventive Strukturen einzubinden, um sexualisierte Gewalt zu verhindern. Eine Risikoanalyse hilft dabei, potentielle Gefahren zu ermitteln und Maßnahmen zur Vermeidung solcher Gefahren zu ergreifen. Wichtig ist hierbei, den Besonderheiten der verschiedenen Arbeitsbereiche gerecht zu werden.

Können Sie ein Beispiel geben?

Nehmen wir einmal ein Beispiel aus dem Arbeitsbereich Kindergottesdienst. Dieser Bereich ist geprägt von einer intensiven Beziehungsarbeit. Immer wieder spielen Nähe und Distanz eine wichtige Rolle und nicht selten kommt es vor, dass kleinere Kinder sich auf den Schoß der Mitarbeiterin oder des Mitarbeiters setzen möchten oder sich ganz nah an den Arm/Körper der Mitarbeiterin oder des Mitarbeiters begeben. Im Sinne der Prävention sexualisierter Gewalt sind solche Situationen jedoch zu vermeiden. Die präventive Maßnahme besteht hier demnach darin, ein angemessenes Nähe-Distanz-Verhalten im beruflichen Wirken zu etablieren und einen intensiven körperlichen Kontakt während der Beziehungsarbeit zu vermeiden. Die Kinder werden auf diese Weise vor sexualisierter Gewalt geschützt, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schützen sich vor falschen Verdächtigungen und Eltern können - aufgrund der ihnen zuvor bekannt gemachten fachlichen Standards - darauf vertrauen, dass sich ihre Kinder an einem sicheren Ort befinden.

An wen kann man sich wenden - sowohl als Betroffene  als auch, wenn man einen Verdacht hat?

Als Betroffene oder Betroffener können Sie sich jederzeit an die Ansprechstelle für Opfer sexualisierter Gewalt im Landeskirchenamt Hannover wenden und/oder die landeskirchliche Telefon-Hotline 0800 5040112 für Betroffene anrufen. Darüber hinaus können Sie Informationen auf unserer derzeitigen Webseite www.praevention.landeskirche-hannovers.de finden.

Selbstverständlich stehen wir auch unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die einen Verdacht auf sexualisierte Gewalt haben, zur Verfügung und informieren über das weitere Vorgehen. Auf der o.g. Webseite können unsere Mitarbeiterrinnen und Mitarbeiter auch heute schon Informationen zum Handeln im Verdachts- und/oder Krisenfall einsehen.

Themenraum
Bild: Jens Schulze

Redaktioneller Hinweis

Im Tagesthema vom 22. Mai 2018 haben wir einen Essay von Pastor Peer Schladebusch veröffentlicht. In dem Text setzt er sich mit dem Thema Gemeindeleitung in freikirchlichen Gemeinden auseinander. Er thematisiert dabei auch den Rücktritt des leitenden Pastors der amerikanischen Willow Creek Community Church, gegen den es Vorwürfe wegen sexueller Belästigung gegeben hat.

Den Themenraum (d.h. die Redaktion, die auch für das Tagesthema zuständig ist) erreichten daraufhin einige kritische Anfragen zur Argumentation von Peer Schladebusch in seinem Artikel. 

Im Tagesthema haben wir den Essay, der zuvor auch schon im Nachrichtendienst idea erschienen ist, ausdrücklich als Beitrag von Peer Schladebusch gekennzeichnet. Artikel, die als Autorenartikel gekennzeichnet sind, müssen nicht der Meinung der Redaktion entsprechen. Und in diesem Fall entspricht die Argumentation im Hinblick auf den Umgang mit sexualisierter Gewalt nicht den Leitlinien der Landeskirche bei diesem Thema. 

Um das noch einmal deutlich zu machen, haben wir uns entschlossen, ein Interview mit Cindy Dagott, Präventionsbeauftragte der Landeskirche zu veröffentlichen, die pointiert Stellung zu dem Text von Peer Schladebusch nimmt. 

Peer Schladebusch hat inzwischen deutlich gemacht, dass der Fokus seines Textes nicht auf dem Umgang mit sexualisierter Gewalt liegt. Gerade im Hinblick auf die Opfer sexualisierter Gewalt greife sein Text eindeutig zu kurz, so Schladebusch weiter.

Es war nie die Absicht des Themenraums das Thema sexualisierte Gewalt in irgendeiner Weise zu verharmlosen. Sollte dieser Eindruck entstanden sein, bitten wir dafür ausdrücklich um Entschuldigung.

Benjamin Simon-Hinkelmann für das Team des Themenraums der Landeskirche
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Bild: Wiebke Ostermeier/lichtemomente.net