Startseite Archiv Tagesthema vom 05. Dezember 2017

Das einfache Leben, die große Kunst und das lodernde Licht

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Kunst-Andacht von Dr. Matthias Surall zum 1. Advent im Sprengel-Museum

„Die schwarzen Frauen“ von Marianne von Werefkin: Ein beeindruckendes Bild, auf den ersten Blick schlicht. Auf den zweiten Blick vielschichtig.

Wir Menschen haben es am liebsten klar, deutlich und abgegrenzt. Wir sagen gerne: eins nach dem anderen. Multitasking, also die Gleichzeitigkeit verschiedener Aufgaben, überfordert viele. Immer schön hintereinander soll das Leben abgehen: erst die Schule, dann die Ausbildung, schließlich Beruf und irgendwann Ruhestand. Oder: Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Mischen impossible! Wir mögen es ordentlich, nicht chaotisch, teilen das Leben in Phasen ein, den Tag in Stunden und dazugehörige Tätigkeiten, ebenso Woche, Monat, Jahr und Kirchenjahr. Auch in unserer Gefühlswelt haben wir es am liebsten eindeutig und je für sich eingeteilt. Vermischungen und Überschneidungen sind unschön, unbequem, nicht gern gesehen. Sei es die Mischung von Schichten, Milieus, Sprachen und Lehren oder die Überschneidung von Phasen und Zeiten. Schuster, bleib bei deinen Leisten! Schon der Prediger Salomo wusste, dass alles je seine Zeit hat: Weinen und Lachen, Zerstören und Aufbauen, Schlafen und Arbeiten. Auch die Kirchenjahreszeiten kommen je für sich zum Zug und gehen nicht ineinander über: Der November, die Zeit der Trauer- und Gedenktage. Danach die Adventszeit und dann Weihnachten. Oder die Abfolge von Passionszeit und Ostern, von Pfingsten und Trinitatis. Gut, wenn alles seine Ordnung hat oder?!

Nur dumm, dass sich das Leben in seiner Vielfalt und Unübersichtlichkeit nicht an diese Abgrenzungen hält. Faktisch fließen die Dinge eben doch ineinander und sind nicht stets trennscharf voneinander zu differenzieren. Das Tragische kann auch komische Momente haben, Glück und Unglück können sich überlappen, Krieg und Friede, Wohlstand und Armut können gleichzeitig auftreten. Wer wollte bestreiten, dass Hunger und Armut auch viel mit Wohlstand und Überfluss in anderen Teilen der Welt zu tun hat? Dass die ach so freie Fahrt für freie Bürger ohne Tempolimit und Schadstoffbegrenzung nicht nur segensreich für alle daherkommt? Dass die Adventszeit im Handel kurz nach der Sommerzeit beginnt? Und dass eine der größten Herausforderungen des Menschseins, des Lebens und Glaubens darin besteht die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu erkennen, zu akzeptieren und zu managen?!

Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen oder das In- und Miteinander des eigentlich Getrennten, nacheinander Angesiedelten, die Überlagerung von Gegensätzen, die Annäherung von Widersprüchen oder kurz: die Dialektik des Lebens, wie es ist und sich vollzieht.

Mitten im Einen das Andere erkennen und zur Geltung bringen, das ist die Herausforderung des gelingenden Lebens. Dabei helfen gute Kunst und ehrliche Theologie. Ein Kunstwerk wie „Die schwarzen Frauen“ zeigt zum Beispiel mitten im Halbdunkel des einfachen Lebens das große, aufscheinende Licht, neben den kalten Farben die warmen, in und über aller Arbeit und Mühsal die Hoffnung, mitten im Alltag die Transzendenz.

Und biblische Texte, wie die großen prophetischen Verheißungsworte aus dem Jesaja-Buch, regen den Glauben an, mitten im bedrückenden Alltag von Dunkelheit, Not und Zerstörung die neue Realität Gottes zu erkennen. Die Realität von Gottes Reich, das mitten unter seinen Glaubenden anbricht und gegenwärtig ist und wird. Mitten im finsteren Wohnen und Wandeln seines Volkes Israel lässt Gott sein Licht aufgehen und scheinen. Das Licht der von ihm gestifteten Hoffnung darauf, dass das drückende Joch der Unterdrücker zerbrochen werden wird, dass die Stiefel und blutigen Mäntel der Soldaten verbrannt werden, dass ein Friede-Fürst ankommen wird, als Kind der Welt geboren und geschenkt und als Nachfolger Davids Recht und Gerechtigkeit aufrichtend.

Diese Verheißung ergeht mitten hinein in den Alltag – damals wie heute. Sie beseelt und aktiviert. Gottes Licht spiegelt sich im Antlitz wie im Herzen der davon getroffenen Menschen. Es holt sie heraus aus dem Dunkel, zieht sie ins Licht, erhellt ihr Leben.

Die Verheißung, der Advent Gottes aktiviert, macht Beine, setzt in Bewegung. „Die schwarzen Frauen“ in unserem Kunstwerk brechen auf, dem Licht entgegen, das sie anzieht. Die Israeliten lassen sich in der zunächst trostlosen Zeit und Szenerie nach der wenig glorreichen Rückkehr aus dem babylonischen Exil von Gottes Verheißung locken und motivieren. Sie bauen wieder auf, gehen ihr Leben neu an im Vertrauen auf Gottes Zusage und Geleit.

Und wir heute, am 1. Advent 2017? Lassen wir uns von großer Kunst wie diesem Gemälde inspirieren und motivieren? Erkennen wir im hier gemalten lodernden Licht ein Symbol der Hoffnung, dass dieses einfache oder komplexe Leben mit seiner Mühsal und Pein nicht alles ist? Lassen wir uns von den Lichtworten des Jesaja auf die adventliche Spur Gottes bringen, der auch uns weismacht: es gibt mehr als das, was es gibt! Es gibt mehr als Bedrückung, anderes als Zerstörung, Alternativen zu „America first“ und „Bikini statt Burka“, Gegenentwürfe zu politischen Drohgebärden und Intrigen, besseres als Egoismus und ‚Süßer die Kassen nie klingeln‘ im Jingle Bells Rausch.

Wer dies erkannt hat und ergreift, wird selber Gottes Licht weitergeben, in diese Welt tragen: Mache dich auf und werde Licht, denn dein Licht kommt!

Wer die Sehnsucht nach mehr und anderem in sich wachhält, wie sie durch große Kunst angeregt und durch Gottes Verheißung genährt wird, ist imstande, staunend die wundersamen Namen des verheißenen Kindes nachzusprechen, sie in diese Welt hineinzubuchstabieren: Gott-Held und Wunder-Rat, Ewig-Vater und Friede-Fürst. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen. 

Dr. Matthias Surall

Die Künstlerin

Marianne von Werefkin, 1860 geboren, entstammte der russischen Oberschicht und genoss bereits in ihrer Heimat eine intensive künstlerisch-malerische Ausbildung. 1896 zog sie zusammen mit dem von ihr entdeckten und lange Jahre materiell wie künstlerisch geförderten Alexej Jawlensky nach München. Damals war sie in ihrer Heimat bereits als „russische Rembrandt“ angesehen, was ihren Ursprung in der realistischen Malerei verdeutlicht. Neben der komplizierten, wechselvollen Beziehung zu Jawlensky, dessen Förderung sie die eigene Kunst lange rigoros unterordnete, widmete sie sich intensiv der eigenen künstlerischen Bildung und Horizonterweiterung. Sie reiste viel, unter anderem nach Frankreich, wo sie Inspiration und Impulse unter anderem durch die Kunst und Lehren Paul Gauguins erfuhr.

In München gründete sie zusammen mit ihren Künstlerkollegen Jawlensky, Wassilij Kandinsky und Gabriele Münter die „Neue Künstlerische Vereinigung München“. Ein zukunftsträchtiger Kreis, der später im „Blauen Reiter“ aufging. Von Werfekin arbeitete häufig mit den genannten Kollegen und Freunden zusammen, zum Beispiel beim Landschaftsmalen im Voralpengebiet um Murnau. Hier wird sie sich Anschauung und Inspiration für das Bild „Die schwarzen Frauen“, um 1910 herum entstanden, geholt haben.

Sie war der lebhafte und Genreübergreifend engagierte Mittelpunkt dieses Kreises, ihr Salon ein Zentrum des künstlerischen Austauschs und der Wegbereitung neuer Stile und Schwerpunkte künstlerischer Kreativität.

Für die damalige Zeit, speziell in Deutschland, war Marianne von Werefkin eine emanzipierte, selbstbestimmte Frau, auch wenn die politische Bewegung der Frauenemanzipation nicht ihr Ding war. Durch eine lange Zeit der wirtschaftlichen Unabhängigkeit begünstigt und flankiert von dem Beschluss, keine klassische Familie zu gründen, konnte sie sich ihren Interessen, ihrer Weiterbildung und ihrer Kunst widmen.

So wie sie als spannungsreiche, vielfältige Persönlichkeit beschrieben wird, so vibrieren auch ihre Bilder oft förmlich von unaufgelöster Spannung und Intensität. Als sie ca. 1906 ihre eigene künstlerische Tätigkeit wieder aufnahm, war der Abschied vom Realismus offensichtlich. Sie spielte und experimentierte mit Farben und Stilen, näherte sich der Abstraktion. Ihre Bilder zeigen häufig Landschaftsdarstellungen, in denen in sich verschlossene, typisiert dargestellte Menschen, oft schwarz gekleidete Frauen, begegnen. Die Kombination der Darstellung einfachen Lebens mit einem mystisch-transzendent anmutenden Gehalt ist typisch. Marianne von Werefkin schrieb 1902: „Alles langweilt mich in der Welt der Tatsachen. Ich sehe ein Ende, eine Grenze aller Dinge, und meine Seele dürstet nach dem Unbegrenzten, dem Ewigen.“

Dr. Matthias Surall