„So geht Versöhnung!“
Die Darstellung der Archivmeldungen wird kontinuierlich verbessert. Sollten Sie Fehler bemerken, kontaktieren Sie uns gerne über support@systeme-e.de
Christen aus aller Welt erzählen im Interkulturellen Gottesdienst zum Volkstrauertag Geschichten gelungener Versöhnung
Die weiteste Anreise zu diesem Gottesdienst hatten am Sonntagmorgen wohl zwei Auricher, die sich auf den Weg nach Hannover gemacht hatten. Als sie die Neustädter Hof- und Stadtkirche St. Johannis betraten, wurden sie von den orientalischen Klängen einer Band der arabisch-deutschen evangelischen Gemeinde begrüßt. Ja, der Horizont, der sich hier am Volkstrauertag aufspannte, war weit: Die beteiligten Menschen hatten ihre Wurzeln im Kongo, in Madagaskar, in Ghana, Syrien, Ägypten, dem Irak, in Vietnam, Finnland, Ungarn, Deutschland und anderen Ländern. Ein Gipfeltreffen der kulturellen Vielfalt und ein Fest der Einheit in Christus.
Mindestens drei Treffen sind jeweils nötig, um diesen interkulturellen Gottesdienst so vorzubereiten, dass er für alle Beteiligten „funktioniert“. Dabei ist die Vorbereitung selbst ein wichtiges Element im interkulturellen Lernen: Es müssen passende Lieder gefunden werden, die in möglichst vielen Sprachen gesungen werden können und leicht zu lernen sind. Hierbei hilft Liedermacher und Pastor Fritz Baltruweit, der seine Erfahrungen einbringt. Die Musik spielt eine große Rolle. Neben der arabischen Band kam sie dieses Mal von Csanà Deli, einem Mitglied der reformierten ungarischen Gemeinde, der auf der Klarinette meditative Melodien beitrug. Die zweisprachige Moderation, in Form eines Gespräches von Phuong Tran und Pastor Woldemar Flake, ist wichtig für den Grundton und den roten Faden in dieser so bunten Gottesdienstform. Für die Organisation und Kommunikation im Vorfeld sorgte Pastor Dr. Michael Wohlers, der mit einem Stellenanteil im Haus kirchlicher Dienste (HkD) als Koordinator im Bereich der Arbeit mit Migrationsgemeinden wirkt.
In der Vorbereitung wurde deutlich: Zu einem Gottesdienst zu Frieden und Versöhnung gehören ganz wesentlich die persönlichen Erzählungen der Mitwirkenden. So berichtete Tuula Kurki aus der lutherischen finnischen Gemeinde aus ihrer Kindheit in Finnland, wo sie mit ihren 12 Geschwistern und den Eltern in zwei Kriegen mit der Sowjetunion mehrfach ihr Heim verloren hatten. Auch wenn sie keine Erinnerungen an die unmittelbaren Kampfhandlungen hat, hatte sie doch jahrzehntelang eine schreckliche Angst vor „den Russen“. Erst die Freundschaft mit einer Frau aus Russland half ihr zu erkennen, dass der gegenseitige Hass nicht natürlich ist, sondern damals politisch gewollt war. Durch diese persönliche Begegnung erfuhr Tuula Kurki schließlich, was Versöhnung bedeuten kann.
Phuong Tran aus der vietnamesischen evangelischen Gemeinde zeigte zunächst auf, wie die Politik der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich ihr Land in mehrere Zonen aufgeteilt hatte. Diese Spaltung wurde durch den Vietnamkrieg vertieft und wirkt bis heute in den Köpfen der Menschen weiter. Etwa 100.000 Vietnamesen leben heute in Deutschland: Darunter ehemalige Studenten und Vertragsarbeiter aus der DDR-Zeit, dazu die Boatpeople, die vor den Kommunisten in das ehemalige Westdeutschland geflohen waren. In unzähligen Vereinen sind diese Gruppen organisiert und beäugen einander oft immer noch mit großem Misstrauen. Wie kann die innere Spaltung zwischen ehemaligen Nord- und Südvietnamesen überwunden werden? Phuong Tran erzählte, wie vor kurzem zwei Männer in der vietnamesischen Gemeinde getauft worden sind: Ein ehemaliger südvietnamesischer Polizist und ein ehemaliges nordvietnamesisches Parteimitglied. Einst Feinde, standen die Männer nun in weißen Taufkleidern gemeinsam im Taufbecken. Phuong Tran: „Sie haben gelernt einander in Christus anzunehmen. So können wir als Christen auch zum sozialen Frieden beitragen!“
Über die langen Schatten der Kolonialzeit berichtete auch Pastor Theophil Divangamene. Seine Heimat, der Kongo, sei 1960 nur nominell von Belgien in die Unabhängigkeit entlassen worden. De facto finanzierten bis heute die großen Rohstoff- und Elektronikkonzerne beispielsweise durch den Handel mit dem Mineral Coltan die immer wieder aufflammenden Bürgerkriege. Der Reichtum an Rohstoffen liegt darum wie ein Fluch auf dem Land. Als Pastor hat Divangamene im südlichen Kongo erlebt, wie auch unter Christen die Konflikte immer wieder geschürt werden. Und selbst unter in Deutschland lebenden Kongolesen wirkt der Hass weiter. Seine Aufgabe als Pastor sieht Divangamene darin, diese Konflikte zu bearbeiten: „Mit Gottes Hilfe können wir reden! Es nutzt uns nichts, wenn wir den Hass der Kolonialzeit weitertragen. Doch es bleibt ein schweres Erbe.“
Pastor Woldemar Flake, Referent für Ökumene im HkD der Landeskirche Hannovers, der einige Jahre als Pfarrer in einer anglikanischen Gemeinde in England gearbeitet hatte, zeigte am Beispiel von zwei seiner ehemaligen Gemeindeglieder, wie auch lange zurückliegende Kriegstraumata durch Begegnung und Gespräch in einem Prozess der Heilung der Erinnerungen bearbeitet werden können. Flake betonte die Bedeutung eines gemeinsamen Erinnerns für den Prozess der Aussöhnung. Gerade in einer Zeit, in der nationalistische Töne wieder in die Mitte der europäischen Gesellschaften drängen, sei es wichtig, über Ländergrenzen hinaus Menschen die Begegnung von Du zu Du zu ermöglichen.
Einen tiefen Eindruck hinterließ das persönliche Zeugnis von Triafa Iskander, die vor einigen Jahren aus dem Norden des Irak nach Deutschland gekommen ist. Ihr Wunsch für ein Leben in Deutschland waren Friede und Ruhe gewesen. Doch geprägt war ihr Leben im familiären Umfeld zunächst von Angst, Drohungen und Gewalt. Als sie Kontakt zur arabischen Gemeinde fand, lernte sie Menschen kennen, die ihre Traurigkeit sahen und sich um sie kümmerten. Ausschlaggebend wurde für sie das Wort Jesu: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken“ (Matthäus 11,28). Sie beteiligte sich an Gottesdiensten und am Bibelgespräch und schaffte es mit Hilfe der Gemeinde schließlich, im Glauben an Jesus Christus ihre Angst zu überwinden. Triafa Iskander lebt heute ein neues Leben: „Jesus hat mir vergeben, und ich muss auch vergeben. Es hat lange gedauert, aber dann fand ich Frieden. Gott hat meine Angst genommen, so dass ich heute hier stehen kann.“
Die Predigt von Michel Youssif, Prediger und Pastor der Arabisch-Deutschen Evangelischen Gemeinde Hannover (ADEG), griff das übergreifende Thema des Gottesdienstes auf: „Versöhnt in Christus – werde, der du bist“. Er erinnerte an Martin Luther, der seinen Frieden mit Gott erst in der engen Bindung an Jesus Christus gefunden habe. Das arabische Wort „Salam“ meine genau wie das hebräische „Schalom“ einen umfassenden Frieden des äußeren wie des inneren Menschen. Gottes Friede wolle das Heil für den ganzen Menschen. Youssif: „Als Christen müssen wir unsere ,innere Programmierung‘ auf Frieden hin ändern und das dann nach außen leben: In der Familie, unter den Nachbarn, in der Schule, bei Arbeit, in der Gemeinde!“ 65 Millionen Menschen seien derzeit weltweit auf der Flucht, von denen die Hälfte Kinder sind. Warum? Weil die Menschen weit entfernt von Gottes Frieden lebten. Youssif sagte, er sei dankbar für den Frieden, der in Deutschland bereits so viele Jahre herrsche. Aber es reiche nicht, das einfach hinzunehmen: Es gehe darum initiativ zu werden, Frieden zu stiften, so wie dies beispielsweise im Bereich der Flüchtlingshilfe durch Sprachkurse und Schulaufgabenhilfe an vielen Orte geschehe.
Zu den inzwischen entstandenen Traditionen der interkulturellen Gottesdienste in der Neustädter Kirche gehört es, die Kollekte auf afrikanische Weise einzusammeln: Unter Gesang und Tanz kam die Gemeinde an die Stufen des Altars und legte ihr Opfer von 300 Euro zusammen. Den Segen am Ende des Gottesdienstes erteilte eine lutherische Pastorin Päivi Lukkari aus Finnland. Viele blieben zu Gespräch und Imbiss mit Hähnchen-Schenkeln und Piroggen. Erst eine Stunde nach dem Gottesdienst löst sich die Gemeinde langsam auf. Und die beiden Ostfriesen? Sie schienen recht beglückt über die vielen Eindrücke und Begegnungen als sie sich wieder auf den Weg zurück in die Heimat machten.
Woldemar Flake