Startseite Archiv Tagesthema vom 31. März 2017

Die Seele stärken

Die Darstellung der Archivmeldungen wird kontinuierlich verbessert. Sollten Sie Fehler bemerken, kontaktieren Sie uns gerne über support@systeme-e.de

Notfallseelsorger diskutieren bei Kongress über Hilfen nach belastenden Erlebnissen

Wenn Pastor Jürgen Harms zu einem Einsatz gerufen wird, rechnet er mit allem. Als Notfallseelsorger kommt der 65-Jährige zu denjenigen ins Haus, die unfassbar schwere Nachrichten wie die vom plötzlichen Tod eines geliebten Menschen verkraften müssen. "Manche reagieren mit Schockstarre, andere mit Panik. Sie weinen oder schreien", berichtet Harms am Donnerstag am Rande eines Notfallseelsorger-Kongresses in Hannover. "Wichtig ist, das erst einmal mit zu ertragen." Erst später kämen die Fragen, die Betroffenen wollten dann oft genau wissen, was passiert ist.

Nach bis zum Sonnabend diskutieren rund 550 Mitarbeiter von Rettungsdiensten, Polizei, Feuerwehr und Notfallseelsorger bei dem von der evangelischen Landeskirche Hannovers und dem katholischen Bistum Hildesheim organisierten Bundeskongress darüber, was die seelische Widerstandskraft von Menschen in belastenden Lebenslagen, die Resilienz, stärken kann. Wie der Hamelner Pastor Harms haben viele von ihnen Erfahrungen damit, was Angehörige, Unfallopfer oder die Retter brauchen, um zu besser bewältigen zu können, was eigentlich kaum auszuhalten ist. 

Experten im Gespräch. Bild: Johannes Neukirch

Oft im Stillen leisteten Notfallseelsorger eine unschätzbare Hilfe, sagt der Schirmherr des Kongresses in Hannover, Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD). Der Leiter des Zentrums für Psychotraumatologie und Traumatherapie Niedersachsen, Lutz Besser, erläutert, die Seelsorger könnten Menschen helfen, sich wieder zu sortieren. "Die Notfallseelsorge trägt, wenn sie gut funktioniert, dazu bei, dass keine chronischen Langzeitfolgen entstehen." Denn schwere traumatische Erfahrungen könnten dazu führen, dass die Selbstheilungskräfte eines Menschen nicht ausreichten, sie zu überwinden.

Seelsorger Harms hat schon mal eine Stunde lang mit einem schockierten Angehörigen geschwiegen. Erst dann hat er versucht zu klären, ob Freunde oder Verwandte kommen sollen. "Auf sehr unterschiedliche Weise versuchen wir ein Stück Normalität wieder herzustellen." Der Kongress erörtert auch, wie Sport, Musik oder ein Netz von Familie, Freunden und Kollegen den Betroffenen von Unglücken helfen können. Das gilt auch für die Notfallseelsorger und Rettungskräfte, die selbst auch belastende Einsätze verarbeiten müssen.

Bild: Simone Viere/ epd-Bild

Ein Rezept für seelische Gesundheit gebe es aber nicht, betont der Beauftragte für Notfallseelsorge der hannoverschen Landeskirche, Joachim Wittchen. Was zurückbleibt, wenn etwa Angehörige eine Todesnachricht erhalten oder Helfer diese Schreckensbotschaft überbringen müssen, sei ganz individuell und von der Lebenssituation abhängig. 

Die Expertin vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe in Bonn, Jutta Helmerichs, warnt davor, allein dem Einzelnen die Verantwortung für seine psychische Gesundheit zuzuweisen. Resilienz sei auch zu einem Modebegriff geworden. "Das verstellt den Blick auf gesellschaftliche Missstände", warnt sie. So dürften zum Beispiel schlechte Arbeitsbedingungen nicht auf dem Rücken von Einsatzkräften ausgetragen werden.

"Den einen psychischen Schutzpanzer gibt es nicht", sagt Helmerichs. "Aber es gibt viele Schutzfaktoren, die man stärken kann." Auch Menschen, die völlig unvorbereitet mit einem Unglück konfrontiert werden, brächten Ressourcen mit, die es dann zu stärken gelte, erläutert die Leiterin der Koordinierungsstelle Nachsorge, Opfer- und Angehörigenhilfe im Bundesamt, die deutsche Staatsbürger nach schweren Unglücksfällen, Terroranschlägen und Katastrophen im Ausland unterstützt.

Wo verborgene Kräfte liegen, versucht auch Notfallseelsorger Jürgen Harms aufzuspüren, wenn er jemandem gemeinsam mit einem Polizisten eine Todesnachricht überbringen muss. Ein vorschnell ausgesprochener Trost, hilft nicht, hat der 65-Jährige erfahren. "Die Menschen sind nicht ansprechbar auf Trost, nur auf Nähe."

Karen Miether (epd)
Arend de Vries, Geistlicher Vizepräsident des Landeskirchenamtes Hannover und Joachim Wittchen, Landeskirchlicher Beauftragter für Notfallseelsorge. Bild: Johannes Neukirch

Notfallseelsorge

Die Notfallseelsorge ist ein ökumenisches Angebot der Kirchen, das Menschen in akuten Krisen wie Unglückfällen beistehen soll. Dies geschieht in enger Zusammenarbeit mit den Rettungs- und Hilfsdiensten. Bundesweit leisten dabei nach kirchlichen Angaben derzeit rund 7.500 haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter pro Jahr etwa 21.000 Einsätze, bei denen sie Opfern und Einsatzkräften zur Seite stehen. 

Die planvoll organisierte Seelsorge in Notfällen und im Rettungswesen ist ein relativ neues Gebiet kirchlicher Seelsorge. Neben Pfarrerinnen und Pfarrern engagieren sich viele Ehrenamtliche in diesem Bereich, die speziell für diese Aufgabe geschult wurden. Seit 1998 sind die Notfall-Beauftragten der evangelischen Landeskirchen in der Konferenz Evangelischer Notfallseelsorger organisiert. Ihr entspricht auf katholischer Seite die Konferenz der Diözesanbeauftragten für Notfallseelsorge.

Große Einsätze waren etwa die ICE-Katastrophe in Eschede bei Celle am 3. Juni 1998 oder auch der Tsunami 2004. Damals wurden deutsche Notfallseelsorger nach Thailand geschickt. In der Mehrheit stehen die Notfallseelsorger aber bei der sogenannten "stillen Katastrophe im dritten Stock" den Menschen bei. Sie begleiten Angehörige nach einem Suizid oder plötzlichen Kindstod oder überbringen oftmals gemeinsam mit Polizisten die Nachricht, wenn ein nahe stehender Mensch verunglückt ist.

Auf dem Gebiet der hannoverschen Landeskirche, die drei Viertel Niedersachsens umfasst, halten sich nach Kirchen-Angaben mehr als 900 Hauptamtliche aus der evangelischen und katholischen Kirche sowie Ehrenamtliche für Einsätze als Notfallseelsorger bereit. Sie stehen den Opfern von Unfällen und anderen Beteiligten und Zeugen ebenso zur Seiten wie den Angehörigen der Opfer und den Helfern aus den Rettungsorganisationen.

epd