Startseite Archiv Tagesthema vom 14. November 2016

Die Suche nach der Weltformel

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Vor 300 Jahren starb das Universalgenie Gottfried Wilhelm Leibniz

Gottfried Wilhelm Leibniz war ein Universalgelehrter, "wie es heute nicht mehr möglich ist", erklärt der Philosoph und Bestseller-Autor Richard David Precht. Denn "niemand kann das Wissen seiner Zeit mehr bündeln und systematisieren". Leibniz konnte das - und gab den Wissenschaften Impulse, die bis heute nachwirken. Vor 300 Jahren, am 14. November 1716, starb er in Hannover. Das Land Niedersachsen gestaltet ihm zu Ehren an diesem Tag gemeinsam mit der Leibniz-Gesellschaft und der Stadt Hannover einen Festakt am Grab des Philosophen in der Neustädter Kirche. Auch in seiner Geburtsstadt Leipzig ist eine Feier geplant.

Bis heute zähle der Wissenschaftler zu den größten Geistern Europas, würdigt die Leibniz Universität Hannover ihren Namensgeber: Er legte die Grundlagen der modernen Mathematik und vieler technischer Disziplinen. Er gilt als einer der Väter der modernen Sprachwissenschaft, von ihm stammt der Grundstein für die Computer-Technologie. In Religionsfragen war er ein Pionier der heutigen Ökumene, bemühte sich um die Einheit der Christen in Europa.

Und in seiner berühmten "Monadologie" spekulierte Lebniz, was wohl die Welt im Innersten zusammenhält. Was ihn beschäftigte, war die Suche nach dem Geheimnis des Lebens, den Bausteinen des Universums, die Frage nach dem Anfang von allem Sein - oder schlicht nach der Weltformel.

Holzstich "Leibniz bei der Kurfuerstin von Brandenburg" (kol., 1855, nach Zeichnung v. Theobald Freiherr von Oer (1807–1885). Bild: epd-Bild/ akg-images

Der Start ins Leben stand unter einem guten Stern: Der hochbegabte Gottfried Wilhelm wurde am 1. Juli 1646 - einem Sonntag - in Leipzig in in eine Gelehrtenfamilie hineingeboren. Sein Vater war Jurist und Professor für Moralphilosophie, seine Mutter die Tochter eines angesehen Rechtswissenschaftlers. "Leibniz' Vater verstarb früh und hinterließ eine umfangreiche Bibliothek, die dem Achtjährigen zugänglich gemacht wurde, nachdem er ohne fremde Hilfe Latein gelernt hatte", schreibt der Leibniz-Experte Hans Poser.

In mindestens zwei Punkten war der Denker seiner Zeit voraus, sagte der Philosoph Precht dem Evangelischen Pressedienst (epd): "Er dürfte der Erste gewesen sein, der 'digital' dachte. Er baute nicht nur die erste digitale Rechenmaschine, sondern er stellte sich auch alles andere digital vor, das heißt, als eine Entscheidung zwischen Eins und Null. Die Eins war für ihn Gott und die Null das Nichts."

Zudem habe er versucht zu ergründen, wie sich das menschliche Bewusstsein als eine Einheit selbst steuert und hervorbringt. "Diese Frage beschäftigt Neurobiologen und Philosophen noch heute", sagt Precht.

Leibniz, der nie verheiratet war, soll einen eher mönchischen Lebenswandel geführt haben. Freundschaften, die über wissenschaftliche oder politische Interessen hinausgingen, ging er offenbar aus dem Weg. "Für die meisten Menschen war er ein fast weltfremder Gelehrter, den man an seiner dunklen Perücke erkannte und an der bestickten Kleidung, die ihm nicht stand", weiß sein Biograf Eike Christian Hirsch. In diesem Aufzug "wirkte er mit seinem großen Kopf geradezu wunderlich". Und doch, schreibt Wissenschaftsautor Hirsch, war er wahrscheinlich der "intelligenteste Mensch seiner Epoche".

Holzstich "Prinz Eugen und Leibniz", (Leibniz (1646–1716) in Wien, 1713. Bild: epd-Bild/ akg-images

Nach seinem Tod hinterließ Leibniz zwischen 200.000 und 300.000 Seiten und Zettel. Bis heute sind seine umfänglichen Werke nicht vollständig erschlossen, zu Lebzeiten hatte er kaum Bücher veröffentlicht. Er reiste kreuz und quer durch Europa, traf sich mit Fürsten, Kaisern und mit Zar Peter dem Großen. Sein Ruhm als Gelehrter war international, unter anderem wurde er 1673 in die britische Gelehrtengemeinschaft der Royal Society aufgenommen.

Berühmt ist Leibniz vor allem für seinen Versuch, den Grund für das Böse in der Welt zu erklären. In seinen "Essais de Théodicée" schreibt er, die von Gott geschaffene Erde sei zwar "die beste aller möglichen Welten", doch keineswegs vollkommen, da dies nur Gott selbst sei. Durch den unvollkommenen Menschen kämen Leid und Sünde in die Welt, ohne dass dies der Allmacht Gottes widerspreche.

Leibniz war nach Einschätzung des Philosophie-Professors Precht auch einer der wichtigsten Vordenker der Menschenrechte: "Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit werden von ihm ins Zentrum der Ethik gehoben." Leibniz zufolge ist Gerechtigkeit Barmherzigkeit. "In unserer heutigen Zeit, die den Gerechtigkeitsbegriff überwiegend politisch-technokratisch sieht, ist Leibniz' Denken ein wichtiges Korrektiv", betont Precht.

Die Persönlichkeit des großen Denkers bleibt bis heute vielen ein Rätsel. "In einem tatenreichen Leben von seltenen Ausmaßen bekommt man den Menschen Leibniz im Grunde selten rein zu sehen. Es liegt über dieser merkwürdigen Persönlichkeit ein Schleier, der nicht voll gelüftet werden kann", so beschrieb es der Philosoph und NS-Widerstandskämpfer Kurt Huber (1893-1943).

Als Leibniz vor 300 Jahren starb, war er 70 Jahre alt. Laut seinem Biografen Hirsch war sein Sterben "quälend, aber er muss ohne Angst hinübergegangen sein. Er wusste, ihn erwartete die große Verwandlung".

Stephan Cezanne (epd)

Rap trifft auf Barockmusik: Um den 300. Todestag des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz zu würdigen, traten am Sonnabend der Rapper Samy Deluxe, der Counter-Tenor Valer Sabadus und das Barockensemble "Musica Alta Ripa" in der Neustädter Hof- und Stadtkirche in Hannover auf. Das Projekt "Continuum" sei ein Brückenschlag zwischen dem Jahr 1716 und dem Jahr 2016, sagte die Produzentin Danya Segal. "Leibniz war vielleicht der genialste Deutsche, und nur wenige Menschen kennen ihn."

Gottfried Wilhelm Leibniz

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) gilt als einer der wichtigsten Philosophen und Universalgelehrten der frühen Aufklärung und als einer der klügsten Köpfe seiner Zeit in Europa. Er war 40 Jahre lang Bibliothekar am kurfürstlichen Hof in Hannover und engster Berater von Kurfürstin Sophie. Der umfassend gebildete Leibniz befasste sich zeitlebens mit fast jedem Wissensgebiet seiner Zeit. Neben Philosophie und Mathematik behandelte er politische, religiöse und rechtliche Probleme und schuf zahlreiche technische Entwürfe, unter anderem zum Bergbau im Harz.

Leibniz reiste kreuz und quer durch Europa und traf sich mit Fürsten, Kaisern und dem Zar von Russland. Sein umfangreicher Briefwechsel gehört heute zum Weltdokumentenerbe der Unesco. Sein Nachlass mit mehr als 100.000 Blättern wird von der Leibniz-Bibliothek in Hannover verwahrt und ist erst zu einem Drittel erschlossen. Sein Todestag jährt sich am 14. November zum 300. Mal. Hannover begeht 2016 deshalb als Leibniz-Jahr.

Der Gelehrte wurde 1646 in Leipzig als Sohn eines Professors für Moralphilosophie geboren. Er studierte Philosophie und Jura. Nach Stationen in Nürnberg und Mainz kam er mit 30 Jahren nach Hannover. Als Mathematiker schuf Leibniz zeitgleich mit dem Engländer Isaac Newton (1643-1727) um 1700 die Infinitesimalrechnung, die heute eine Grundlage der Naturwissenschaften ist.

Darüber hinaus erfand Leibniz das duale Rechensystem mit 0 und 1, mit dem heute Computer arbeiten, konzipierte eine mechanische Rechenmaschine und ein Windmessgerät und entwarf Pläne für ein Unterseeboot. Auch die erste zutreffende Formel zur Berechnung einer Rentenversicherung geht auf Leibniz zurück. Ausführlich beschäftigte er sich mit der Kultur Chinas, die er für das Abendland erschloss. Philosophisch hielt er die gegenwärtige Welt für "die beste aller möglichen Welten".

Als Historiker verfasste er im Auftrag der Kurfürsten eine Geschichte des Adelsgeschlechtes der Welfen, die aber unvollendet blieb. Als fürstlicher Berater war Leibniz maßgeblich daran beteiligt, dass die Kurfürsten von Hannover durch Personalunion ab 1714 englische Könige wurden. Auf dem Gebiet der Theologie setzte sich der Lutheraner für eine Vereinigung der evangelischen und der katholischen Kirche ein. Er liegt in der Neustädter Hof- und Stadtkirche in Hannover begraben.

epd
Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716; Kopie, unbekannter Künstler, 1711, nach Porträt von 1703 von Andreas Scheits (um 1655-1735). Bild: epd-Bild/ akg-images