Alle ganz laut seufzen!
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Volkstrauertag am 13. November
Gut, dass uns keiner zusieht. Oder zuhört. 50 Erwachsene im Schutze des Gemeindehauses, eine Chorleiterin. Am Ende des 15-minütigen Einsingens: „Und jetzt bitte mal alle ganz laut seufzen, so von oben herab, gern auch mit Handbewegung.“ Wir tun was wir sollen. Hier und da auch ein Lachen. „Ja, schon ganz gut. Und noch einmal. Doppelt so laut wie der Nachbar.“ Wir seufzen was das Zeug hält. „Schon besser. Und noch ein letztes Mal. Alles von der Seele seufzen, ganz tief.“
Was unsere Stimmbänder produzieren, kann man hören. Aber welche Seelen-Bilder bei uns Seufz-Choristen jeweils aufleuchten, kann man nur erahnen, gar nicht so zum Lachen. Komisch klingt es. Komisch, weil ich das ja sonst nicht mache. Bin doch nicht blöd und seufze in der Öffentlichkeit laut herum, mit deutlich vernehmbarem, fast gesungenem Ton und schier endlose Sekunden lang!
Das normale Seufzen ist unauffälliger, ein tiefes Einatmen, ein kurzes Anhalten der Luft, ein Ausstoßen, nur mit wenig Geräusch. Mal unbewusst, mal bewusst. Mal aus Erleichterung („Puh“), häufiger aus Kummer („Hach“.)
Die Geschwister des Kummer-Seufzens reichen vom Klagen über das Jammern bis zum Heulen.
Die Rentnerin Käthe, die im Sessel sitzt und sich für das Heute nur mäßig interessiert. Lieber der verlorenen Heimat in Ostpreußen hinterhertrauert, mit großer Dienstwohnung, Haushaltshilfe und Klavier. Und dann: Alles im Dutt. Flucht, Heide, Provinznest, Dreck, Enge. Manche sind genervt von dieser Rückwärtsperspektive. „Na, hat sie wieder gejammert?“
Die Immobilienmaklerin Carolyn, verheiratet mit Lester, den sie verachtet, weil er in ihren Augen so ehrgeizlos ist. Der Film „American beauty“ zeigt ihr Hochglanzleben, in dem es aber trotz hohen Einsatzes nicht gut läuft. In einer Szene misslingt ihr wieder ein Hausverkauf. Als die Interessenten weg sind, bricht sie in Tränen aus. Aber das darf nicht sein. Sie ohrfeigt sich selber und schreit: „Hör auf zu heulen, du Schwächling, du Baby!“
Käthe hat sich in Seufzen und Klagen eingerichtet und Carolyn kann nicht klagen.
Ein ganz lauter Seufzer-Dreiklang ertönt im achten Kapitel des Römerbriefs. Grundton: Die Schöpfung seufzt. Terz: Die Christen seufzen. Quinte: Gottes Geist seufzt.
Originalton Paulus: „Wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet. Nicht allein aber die Schöpfung, sondern auch wir seufzen in uns selbst und sehnen uns nach Erlösung. Wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich's gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen.“
Dahinter steht die Erfahrung, dass Christenmenschen eben noch nicht „angekommen“ sind, sondern noch unterwegs zwischen Moll und Dur, Karfreitagserfahrungen und Osterglauben, Seufzen und Jubeln.
Den Bibeltext probiere ich gern aus als Anleitung zum rechten Seufzen und suche eine Zwischenlage zwischen Käthe und Carolyn. Ich möchte ehrlich sein, möchte die „seufzende“ Welt und ihren unfriedlichen Zustand wahrnehmen. Nichts wegblenden, sondern es beklagen, auch bejammern und darüber seufzen. In dem Wissen: Gott, selber seufz-kompetent, hört es.
Übrigens: Noch mehr als in Kantoreien kommt das Seufzen in der Comic-Sprache vor. Meine angeknackste Seele oft so *seufz*, *stöhn*, *ächz*. Und Gott so *stärk*.
Pastor Christian Stasch