Startseite Archiv Tagesthema vom 07. November 2016

Selbstbewusst und gut vernetzt

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Behinderte Menschen treten mit teilweise schrillen Aktionen für ihre Rechte ein

Rollstuhlfahrer und andere behinderte Menschen ketten sich in der Nähe des Reichstags fest, um für Barrierefreiheit und für mehr Teilhabe zu demonstrieren. Vor dem Hauptbahnhof in Berlin wird ein Käfig aufgebaut, der symbolisch gegen die Unterbringung in Heimen stehen soll. Unter dem Motto "Blinde gehen baden" springen blinde Menschen in die Spree, um gegen das geplante Teilhabegesetz der Bundesregierung zu protestieren. In vielen deutschen Städten fanden in diesem Jahr Aufmerksamkeit heischende Demonstrationen und Aktionen der Behindertenbewegung statt. An diesem Montag (7. November) versammeln sich wieder Behindertenorganisationen in Berlin, um öffentlichkeitswirksam gegen das geplante Teilhabegesetz der Bundesregierung mobil zu machen.

Wohl noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik hatten behinderte Menschen mit ihren Forderungen eine derartige Medienpräsenz wie derzeit. Ihre Proteste sind so originell und laut, dass von den "Tagesthemen" bis zu "SternTV" Medien im ganzen Land darüber berichten.

Das Internet verstärkt die Protestwirkung: "Als wir die Aufmerksamkeit in sozialen Netzwerken hatten, haben auch viele etablierte Medien berichtet. Sonst verstecken sie sich oft hinter Ausreden wie der, dass Behindertenthemen zu komplex seien", sagt der Berliner Aktivist Raul Krauthausen dem Evangelischen Pressedienst (epd): "Dabei ist die Gesellschaft schon viel weiter als viele Chefredakteure."

Über das Internet erfolgt auch die Vernetzung für die Aktionen. So können sich auch Menschen, die nicht mobil sind, an Protesten beteiligen und mitorganisieren. Auf Twitter ist #nichtMeinGesetz zum Slogan der Bewegung geworden. So erlebt die Behindertenbewegung nach vielen Jahren eine neue Blüte.

Käfig-Aktion von Behindertenaktivisten gegen das geplante Bundesteilhabegesetz. Bild: epd-Bild/ Rolf Zoellner

Einer ihrer Aktivisten ist Constantin Grosch. Der 24-Jährige ist Kreistagsabgeordneter in Hameln und Rollstuhlfahrer. Er hatte vor drei Jahren eine Petition gestartet, in der er gemeinsam mit Krauthausen dafür eintrat, dass behinderte Menschen, die vom Staat Hilfsleitungen erhalten, das Recht bekommen, Vermögen anzusparen. Denn nach geltender Rechtslage dürfen voll berufstätige Menschen mit Behinderungen nicht mehr als 2.600 Euro auf dem Konto haben. Danach wird alles abgezogen, wenn sie vom Staat sogenannte Eingliederungshilfe erhalten. 300.000 Protest-Unterschriften haben die beiden Aktivisten im vergangenen Jahr zusammenbekommen und sie Bundessozialministerin Andrea Nahles (SPD) übergeben.

"An der Situation von Menschen mit Behinderungen hat sich in den vergangenen 20 Jahren kaum etwas geändert", sagt Constantin Grosch. Mit Blick auf das Bundesteilhabegesetz müsse man jetzt sogar darum kämpfen, dass etablierte Rechte und Standards erhalten bleiben.

Das sieht auch Swantje Köbsell so. Sie ist Professorin für "Disability Studies" an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin. Bereits in den 1980er Jahren hatte sie sich an Protesten beteiligt. "Im Gegensatz zu damals sind die Menschen heute besser vernetzt", sagt sie. Außerdem habe sich die Lage für Behinderte verschärft: "Damals ging es allein darum, Dinge zu erkämpfen. Heute geht es bei den Protesten oft darum, erkämpfte Dinge zu erhalten."

Constantin Grosch sieht noch einen anderen Unterschied zu den Protesten der 80er Jahre: "Ich glaube, dass wir es früher der Politik und Öffentlichkeit zu leicht gemacht haben." Denn die Behinderten hätten sich damals schon mit kleinen Verbesserungen, die weit hinter den eigenen Forderungen geblieben seien, zufrieden gegeben. "Es war ja immerhin etwas."

Grosch freut sich über das neue Selbstbewusstsein: "Zum Glück werden heute in der Behindertenbewegung Forderungen formuliert und keine Wünsche. Forderungen gilt es durchzusetzen - politisch, juristisch und medial. Gerade bei letzterem tritt eine, wenn auch sehr langsame, Professionalisierung ein."

Christiane Link (epd)
Bild: epd-Bild

Nachbesserungen beim Teilhabegesetz

Die niedersächsischen Wohlfahrtsverbände verlangen Nachbesserungen beim geplanten Bundesteilhabegesetz für behinderte Menschen. Es müssten "zentrale Punkte" im Sinne der Menschen mit Behinderung verändert werden, erklärte die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege. Das neue Gesetz dürfe nicht dazu führen, dass sich die Lebenssituation der Betroffenen verschlechtere.

Das Teilhabegesetz, das zurzeit vom Bundestag und vom Bundesrat beraten wird, soll dafür sorgen, dass die UN-Behindertenrechtskonvention im Alltag behinderter Menschen in Deutschland umgesetzt wird. Es sieht unter anderem eine Reform der Eingliederungshilfe vor, die rund 860.000 behinderte Menschen in Deutschland erhalten.

Sie sollen mehr Autonomie gewinnen bei der Wahl ihres Wohnortes, bei der Arbeit und im Alltag. Um überhaupt einen Anspruch auf Hilfen zu haben, müssen Behinderte dem Gesetzentwurf zufolge aber in fünf von neun Lebensbereichen auf Unterstützung angewiesen sein.

Wie zuvor schon die Fachverbände für Menschen mit Behinderung kritisiert auch die Landesarbeitsgemeinschaft diese Hürde als "viel zu hoch". Pflegebedürftige Menschen mit Behinderung dürften weder "in die Pflege verschoben" noch von Pflegeleistungen ausgeschlossen werden, hieß es weiter. Sie bräuchten "auch in Zukunft Teilhabe und Pflege nebeneinander".

Das Bundesteilhabegesetz müsse zudem die Teilhabe am Arbeitsleben für alle gewährleisten. Das Recht auf Arbeit müsse auch für schwerst- oder mehrfach behinderte Menschen gelten. Die Wohlfahrtsverbände kündigten an, sich an Protestveranstaltungen gegen den Gesetzentwurf am 7. November in Berlin zu beteiligen.

epd
Raul Krauthausen ist prominentes Gesicht der Aktionen von Behindertenaktivisten gegen das geplante Bundesteilhabegesetz. Bild: epd-Bild/ Rolf Zoellner