Einander annehmen
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Drittletzter Sonntag des Kirchenjahrs
Die Mutter ist überzeugte Vegetarierin und verzichtet auf alle Nahrungsmittel tierischen Ursprungs. Für sie sind alle Lebewesen Geschöpfe Gottes und dürfen ihrer Meinung nach nicht getötet werden, damit wir uns von ihnen ernähren können. Sie ist überzeugt, dass es zu ihren Erziehungsaufgaben gehört, ihre Kinder zu Achtung und Respekt vor allen Geschöpfen anzuleiten. Deshalb gibt es in ihrem Haushalt für alle nur vegetarische Speisen.
In einer anderen Familie sind die Mutter und zwei ihrer vier Kinder ebenfalls Vegetarier. Sie macht sich die zusätzliche Mühe, für ihren Ehemann und die beiden anderen Kinder traditionell zu kochen. Sie kann es respektieren, dass es innerhalb der Familie unterschiedliche Überzeugungen gibt. Doch nicht nur im familiären Umfeld treffen heute unterschiedliche Überzeugungen aufeinander. Auch in Kirchengemeinden wird bei Festen darüber im besten Fall nur diskutiert: Nur noch vegetarische Speisen oder sowohl vegetarisch als auch die traditionelle Bratwurst?
Schon zur Zeit des Paulus gab es in der Gemeinde unterschiedliche Auffassungen, was man essen dürfe und was nicht. Das führte zu Spannungen. Paulus schreibt in seinem Brief an die Gemeindeglieder: „Der eine glaubt, er dürfe alles essen. Der Schwache aber isst kein Fleisch.“ Dabei ist sich jeder seiner Meinung gewiss.
Die Spannungen in der Gemeinde bestehen zwischen Christen mit jüdischem Hintergrund, den sogenannten Schwachen, und Christen aus römisch-heidnischer Tradition, die alles essen. Paulus sieht dadurch die Gefahr, dass es zu Spaltungen in der Gemeinde kommen kann. Seiner Überzeugung nach entscheidet sich das Christsein jedoch nicht daran, was ich esse oder trinke. Er lenkt den Blick auf den gemeinsamen Herrn beider Gruppen:
„Keiner von uns lebt für sich selbst, und auch wenn wir sterben gehört keiner von uns sich selbst. Wenn wir leben, leben wir für den Herrn, und auch wenn wir sterben gehören wir dem Herrn. Im Leben und im Sterben gehören wir dem Herrn. Denn Jesus Christus ist gestorben und wieder lebendig geworden, um seine Herrschaft über alle auszuüben – über die Toten und über die Lebenden.“
Paulus unterstellt beiden Gruppen in der Gemeinde, dass sie mit ihrer jeweiligen Überzeugung Gott ehren wollen. Gleich ob sie auf bestimmte Speisen verzichten oder alles essen, in beiden Fällen tun sie es nicht, ohne Gott zu danken. Darum soll keiner das Recht haben, den anderen wegen seines Verhaltens zu verurteilen oder zu verachten. Jede und jeder wird über sein eigenes Leben vor Gott Rechenschaft ablegen müssen.
Paulus weitet den Blick mit seiner Argumentation über die Frage von Essen und Trinken hinaus und stellt uns Heutige vor die Frage: Können wir einander annehmen und achten, auch wenn einige ganz anders denken, leben und handeln als wir? Seit ihrer und unserer Taufe gehören wir im Leben und selbst über den Tod hinaus vor allem erst einmal gemeinsam zu Jesus Christus. Wenn wir an ihn glauben und mit ihm leben möchten, muss das sich in unserem Verhalten in der Gemeinde und darüber hinaus widerspiegeln. Paulus ist überzeugt: Nur dann sind wir für Gott eine Freude und in den Augen der Menschen glaubwürdig.
Pastor i.R. Dieter Wittenborn