Startseite Archiv Tagesthema vom 29. September 2016

"Es geht um Wertschätzung"

Die Darstellung der Archivmeldungen wird kontinuierlich verbessert. Sollten Sie Fehler bemerken, kontaktieren Sie uns gerne über support@systeme-e.de

Landwirtschaftsminister Christian Meyer über das Erntedankfest

epd: Herr Minister, Erntedank ist ein Jahrhunderte altes Fest. Was kann dieses Fest heute im Zeitalter der industriellen Landwirtschaft bedeuten?

Meyer: Es macht nochmal klar: Hier geht es um unsere Lebensgrundlagen. Es geht um den Umgang mit der Erde, mit Pflanzen und Tieren. Das ist nicht irgendeine übliche Handelsware, ein I-Pad oder ein Kühlschrank. Sondern das sind Lebewesen, mit denen wir umgehen, und somit das sicherstellen, was wir wirklich brauchen: gesunde, nachhaltig erzeugte Produkte, um uns zu ernähren.

epd: Nun sind ja viele Lebensmittel heute mit Chemikalien belastet, und vorher hat der Landwirt schon jede Menge Pestizide draufgespritzt. Können Sie da wirklich noch aus vollem Herzen Danke sagen?

Meyer: Viele Menschen machen sich natürlich Sorgen über die Auswüchse der industrialisierten Landwirtschaft. Da liegt aber auch eine Chance drin, dass wir nämlich wieder mehr Verbindung mit der Landwirtschaft suchen und den Landwirten sagen, wie wir Lebensmittel produziert haben möchten. Wie wir uns ernähren, ist auch eine Haltungsfrage und eine politische Frage. Es beeinflusst, wie unser Lebensumfeld aussieht. Will ich dort Mais-Monokulturen haben? Oder will ich dort eine Vielfalt haben, wo auch noch die Biene Platz findet? Will ich weiter bäuerliche Familienbetriebe haben oder riesige anonyme Agrarkonzerne?

epd: Was macht Ihnen persönlich im Blick auf unsere Lebensmittelproduktion am meisten Bauchschmerzen?

Meyer: Dass das Höfesterben nicht nur weitergeht, sondern sich beschleunigt. Viele Bauern können bei den derzeitigen Preisen von ihrem Ertrag nicht leben. Große Agrarstrukturen entstehen, die von der Bevölkerung nicht mehr akzeptiert werden.

epd: Was kann der Konsument tun?

Meyer: Vielleicht mal den Landwirten danken, wenn er zum Beispiel auf dem Wochenmarkt einkauft. Wenn er sich gefreut hat über eine gute Kartoffel, über ein gutes Stück Fleisch. Und dann diese Wertschätzung in klingender Münze auszahlen. Tierschutz hat seinen Preis. Den müssen wir als Verbraucher zahlen. Der Konsument sollte darauf achten, dass er möglichst regional kauft. Damit das Geld bei den Landwirten auch ankommt. Also direkt im Hofladen, an einer Milchtankstelle, bei einem Direkt-Vermarkter von Spargel und Erdbeeren. Natürlich freut es mich, wenn der Konsument stärker auf Ökologie und Tierschutz setzt. Auch das hat einen höheren Preis. Ein Öko-Produkt ist mehr wert, weil ein Öko-Landwirt einen höheren Aufwand hat.

epd: Aber es sind ja Millionen von Menschen zu versorgen mit Lebensmitteln. Muss man nicht realistischer weise sagen, dass ökologisch erzeugte Produkte die Sache einer wohlhabenden Minderheit sind und für die Mehrheit eben eine Massenproduktion gebraucht wird?

Meyer: Nein. Nur eine Landwirtschaft, die nachhaltig ist, hat Zukunft. Solange in Deutschland und weltweit immer noch bis zu 50 Prozent der Lebensmittel weggeworfen werden, die Produkte auf dem Acker liegenbleiben, weil die Gurke zu krumm ist oder die Kartoffel nicht in die Norm passt, und wir als Verbraucher, verführt vom Handel, viel zu viel einkaufen, solange kann mir keiner erzählen, dass wir nicht bewusster einkaufen und mehr Geld für Lebensmittel ausgeben können. Das hat etwas mit Wertschätzung zu tun. 

Es kann ja nicht sein, dass ich Produkte bekomme aus Massenproduktion mit Antibiotika-Belastung oder mit viel Pestizid-Einsatz, nur damit sie billig sind. Diese Logik hat mit Würde, Ethik und Moral wenig zu tun. Wir brauchen einen Mentalitätswechsel: Weg von billig-billig und Masse, hin zu mehr wirklicher Qualität. Wenn man eine Familie am Sonntag zum Sonntagsbraten einlädt, sollte man nicht sagen: Ich hab hier ein Schnäppchen gemacht und ganz billig eingekauft, sondern: Ich hab hier ein regionales Fleisch vom Bauern nebenan gekauft, das ist richtig was wert! In Frankreich wird so gedacht. Und das können wir in Deutschland auch.

Landwirtschaftsminister Christian Meyer (Gruene) bekam am 23.04.2016 in Hannover ein Paar verschmutzte Gummistiefel ueberreicht. In Hannover hatten sich mehrere Tausend Menschen zur Grossdemonstration gegen die umstrittenen Freihandelsabkommen TTIP und CETA versammelt, Bild: epd-bild

epd: Wie kann man gegen die Wegwerf-Mentalität angehen?

Meyer: Wir müssen deutlich mehr Bewusstsein gegen Verschwendung schaffen. Zum anderen geht es darum, feste Regeln für den Handel zu bekommen. Frankreich hat zum Beispiel ein Gesetz gegen das Wegwerfen von Lebensmitteln. Das finde ich sehr sympathisch. Die Supermärkte müssen dann die Produkte, die sie zu viel haben, abgeben an Tafeln und gemeinnützige Organisationen. Bestimmte Regelungen zu erlassen, was Verpackungsgrößen angeht, etwa für Single-Haushalte - auch das ist sinnvoll. Auch über die Frage des Mindesthaltbarkeitsdatums sollten wir nachdenken. Bei bestimmten langlebigen Produkten wie Nudeln oder Zucker macht das wenig Sinn. Aber es werden auch massenhaft frische Produkte weggeworfen, die noch verzehrsfähig sind. Wichtig sind daher aussagekräftige Informationen für die Verbraucher, wie man mit Lebensmitteln wertschätzend umgeht.

epd Landesdienst Niedersachsen/Bremen

Christian Meyer

Christian Meyer (41) wurde am 19.02.2013 als niedersächsischer Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz vereidigt. Minister Meyer ist ledig und lebt in Holzminden.

Er ist unter anderem Mitglied beim BUND und beim NABU sowie bei der Holzmindener Tafel. Darüber hinaus hat er den Vorsitz der grünen Länder bei der Agrarministerkonferenz inne und vertritt das Land Niedersachsen bei der Verbraucherschutz- ministerkonferenz.

Bei der Landtagswahl in Niedersachsen 2008 zog er für seinen Wahlkreis Holzminden über die Landesliste erstmals in das Leineschloss ein. Als Abgeordneter des Niedersächsischen Landtags war er bis Februar 2013 stellvertretender Vorsitzender und Sprecher für Landwirtschaft, Verbraucherschutz, Naturschutz und Tierschutz.

Niedersächsisches Landwirtschaftsministerium

Erntedank oder Thanksgiving

Erntedankfeste gehören zum ältesten Bestand religiöser Feste. Schon in der Antike waren sie deshalb weit verbreitet. So feierten die Israeliten zwei Erntedankfeste: das Wochenfest und das Laubhüttenfest. Und auch die „alten Römer“ kannten vier verschiedene Erntefeiern. Diese fanden im Mittelalter in den Quatember-Tagen der Kirche ihre Fortsetzung. Einen Bezug zur Ernte hatte dabei freilich nur noch der September-Quatember.

Als Termin für das Erntedankfest wurde bereits in der Reformationszeit mit Vorliebe der Michaelistag (29.9.) oder einer der beiden benachbarten Sonntage gewählt. In Preußen wurde das Erntedankfest 1773 offiziell eingeführt und auf den Sonntag nach Michaelis gelegt. Seitdem begehen an diesem ersten Sonntag im Oktober die evangelischen Kirchen und auch weitgehend die katholische Kirche dieses Fest. In der katholischen Kirche ist der Erntedanktag dabei oft mit lokalen Traditionen wie etwa Flurumgängen verbunden.

Im Mittelpunkt der Gottesdienste zu Erntedank steht der Dank an Gott als dem „Geber aller guten Gaben“. Der Brauch, die Altäre in den Kirchen mit Ähren und Garben, Früchten und Blumen zu schmücken, besteht auch heute noch. Zudem gewinnen durch wachsendes Umweltbewusstsein und durch den Hunger in der Welt die Erntedankfeste an Bedeutung für einen verantwortlichen Umgang des Menschen mit der ihm von Gott anvertrauten Schöpfung. Eine ganz besondere Bedeutung hat der Erntedanktag als „Thanksgiving Day“ in den USA.

Dort wird er seit 1621 am vierten Donnerstag im November in Erinnerung an die erste Ernte der „Pilgerväter“ als größtes Familienfest neben Weihnachten begangen. Die „Pilgerväter“, englische puritanische Siedler, waren mit der „Mayflower“ am 16. September 1620 vom englischen Plymouth nach den USA gesegelt und hatten dort die Kolonie Plymouth gegründet, die erste europäische Siedlung in Neu-England.

Jörg Buchna