Startseite Archiv Tagesthema vom 26. August 2016

Das unsichtbare Zentrum

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„Wes Geistes Kind jemand ist“ – so fragen wir uns, wenn wir sehen, wie ein Mensch sich benimmt, was er tut oder welche Überzeugungen er äußert. Diese schöne Redewendung in unserer Sprache macht uns darauf aufmerksam, dass wir nicht nur „Oberfläche“ sind, sondern dass darunter eine Tiefenschicht liegt, ein unsichtbares, aber reales Zentrum – unser Geist. Davon geht auch der Apostel Paulus aus: Ihr habt einen Geist empfangen, den Geist der Kindschaft, der in euch lebt und brennt und euch von innen her bestimmt. Wenn dieser Geist uns treibt, wie der Wind ein Segelschiff, dann rufen wir „Abba, lieber Vater!“ und zeigen, wes Geistes Kind wir sind.

Nun kommen Rufen oder gar Schreien in unseren Gottesdiensten normalerweise nicht mehr vor; die Erziehung hat uns solche Spontaneität abgewöhnt. Aber eine Ahnung davon ist uns erhalten geblieben. Wenn ich in Gemeinschaft mit anderen das Vaterunser spreche, dann fragt mich niemand, ob ich auch glaube, was ich sage, nämlich dass wir einen Vater im Himmel haben. Sondern umgekehrt: Beim gemeinsamen Sprechens kann sich genau dieser Geist einstellen. Dann umhüllt uns wie in einer dichten Atmosphäre die Väterlichkeit Gottes. “Der Geist selbst gibt Zeugnis unserem Geist.“ Dann spüren wir: Der lebendige Gott, Schöpfer von Himmel und Erde, hat uns zu seinen Kindern adoptiert.

Sind wir Kinder, sagt Paulus, dann sind wir auch Erben Gottes und haben Anteil an der von Gott gestifteten Hoffnung für die Welt. Im Unterschied zu den Kindern Israel, die immer schon beim Vater waren, sind wir aus den Völkern hinzukommenden Kinder Erben nur als Miterben Christi, in Schicksalsgemeinschaft mit ihm. Das haben wir oft vor allem in seiner Bedeutung für die einzelnen Glaubenden individuell ausgelegt. Wir haben viel und intensiv darüber nachgedacht, was es für uns bedeutet, wenn Gott sich im Dunkeln verbirgt und wir uns mit unserer Vergänglichkeit und körperlichen Gebrechlichkeit quälen müssen. Viele Gesangbuchlieder legen davon Zeugnis ab. Mit Christus leiden war dann auch das Eingeständnis, dass das messianische Reich noch nicht in seiner Fülle da ist.

Miterben mit Christus betrifft aber auch  die ganze Gemeinde, weil Christus nicht von Israel und vom jüdischen Volk gelöst werden kann, nicht von seiner jüdischen Herkunft, nicht von der Geschichte Gottes mit seinem Volk, nicht von den messianischen Hoffnungen, nicht von Gottes Treue und Erbarmen. Das alles bindet uns als die neuen Kinder Gottes an die, die bereits beim Vater sind. Diesen Gedanken zu ertragen, ist uns Christen in der Kirchengeschichte nicht leicht gefallen: Wir fühlten uns als die Hinzugekommenen minderwertig und haben uns oft genug triumphierend über Israel erhoben – so gerne wären wir die ersten gewesen, die einzigen, die den Segen Gottes für sich beanspruchen. Für den Apostel Paulus ist das Miteinander von Israel und den Völkern aber entscheidend. Am Ende seines Römerbriefs bringt er es auf diesen Punkt: „Freut euch, ihr Völker mit seinem Volk!“

Und noch eines: Der Geist der Kindschaft ist nicht immer sanft. Er widerspricht deutlich. In diesen Tagen und bei diesem Predigttext besonders gegen Antisemitismus. Damit die Menschen erkennen, wes Geistes Kinder wir sind.

Pastor Wolfgang Raupach

Der Bibeltext

Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen Geist der Kindschaft empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind. Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, wenn wir denn mit ihm leiden, damit wir auch mit ihm zur Herrlichkeit erhoben werden.

Römer 8, 14-17
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Bild: Wiebke Ostermeier/lichtemomente.net