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Die Bahnhofsmission in Hannover feiert ihr 120-jähriges Bestehen
Mit einem Zischen hält der Intercity aus Norddeich Mole auf Gleis 4 des Hauptbahnhofs in Hannover. Jonas Engelking beobachtet genau, wie sich die Türen öffnen und Hunderte Reisende Richtung Rolltreppe strömen. Der 18-Jährige hat gerade seinen Bundesfreiwilligendienst bei der Bahnhofsmission begonnen. Jetzt soll er einen Fahrgast abholen, der kaum noch sehen kann. "Vielleicht hat er einen Blindenstock dabei", sagt er. "Dann erkenne ich ihn leichter." Die Bahnhofsmission in Hannover zählt neben den Einrichtungen in Berlin und München zu den ältesten in Deutschland. Am 21. August hat sie ihr 120-jähriges Bestehen gefeiert mit einem Gottesdienst in der Apostelkirche.
Direkt unter Gleis 14 schlägt in dem kleinen Aufenthaltsraum das Herz der Bahnhofsmission. Eine rumänische Familie braucht Unterstützung beim Fahrkartenkauf. Ein polnischer Arbeiter sucht einen Platz zum Übernachten. Ein ehemaliger Häftling plant sein neues Leben in Freiheit. Ein Wohnungsloser möchte einfach nur einen warmen Kaffee trinken. Dass der minderjährige Flüchtling schon wieder verschwunden ist, den die Polizei eben vorbeigebracht hat, bemerken Isabel Senne und ihre drei Teamkollegen deshalb zu spät. "Hier gibt's nichts, was es nicht gibt. Und alles passiert gleichzeitig", sagt Senne (48).
Mit vier anderen Hauptamtlichen und rund 25 ehrenamtlichen Mitarbeitern führt sie in Hannover mehr als 26.000 Gespräche und Beratungen pro Jahr, durchschnittlich 71 am Tag. Für Leiterin Andrea Weber ist die Bahnhofsmission "ein Seismograph der Gesellschaft". Das Engagement der ökumenischen Einrichtung sei schon immer von den Problemen der Menschen bestimmt worden.
Als sich Ende des 19. Jahrhunderts mehr Menschen Zugfahrten leisten konnten, verschwanden an den meist zwielichtigen Bahnhöfen immer wieder junge Frauen und Männer, die in der Stadt nach Arbeit suchen wollten. Zu ihrem Schutz gründeten sich Verbände wie die "Freundinnen junger Mädchen", die den jungen Frauen, Wanderarbeitern und Wanderern den richtigen Weg wiesen. Daraus entstand 1894 die erste Bahnhofsmission in Berlin. Zwei Jahre später wurde die Hilfsorganisation am 1878 eröffneten Bahnhof in Hannover gegründet.
Nach den Weltkriegen kümmerten sich die Bahnhofsmissionen um zurückgekehrte Soldaten, Kriegsversehrte und Vertriebene. In den 1920er Jahren zur Zeit der Weltwirtschaftskrise schenkten sie Suppe gegen den Hunger aus. "Noch heute wird die Bahnhofsmission mit Essen und Trinken in Verbindung gebracht", sagt Weber. In den 1960er kamen Gastarbeiter mit Sonderzügen an und wussten nicht wohin. Später reisten Rentner aus der DDR in den Westen, hatten aber keine Westmark im Gepäck. Und auch nach dem Mauerfall war viel Bewegung an den Bahnhöfen.
Lange bevor der Flüchtlingszuzug Thema in den Medien und an den Stammtischen wurde, betreuten und berieten die Mitarbeiter der Bahnhofsmission in Hannover 2014 und 2015 jeweils rund 7.000 Neuankömmlinge, sagt Weber. Inzwischen strandeten zwar kaum noch neue Flüchtlinge an den Bahnhöfen. Doch auch diejenigen, die bereits in Deutschland an- und untergekommen sind, bräuchten immer wieder Hilfe. Sie fragten nach Wegbeschreibungen zu Interview-Terminen in Ämtern und Behörden, nach Fahrkarten in eine neue Unterkunft oder zurück in ihre Heimatländer. Die Betreuung von Kindern, Senioren und behinderten Menschen auf der Reise mache nur noch etwa die Hälfte der Arbeit aus.
Nach ein paar Minuten hat Jonas Engelking den Mann mit Blindenstock und Armbinde am Bahnsteig entdeckt. "Ihr Zug hat 30 Minuten Verspätung", berichtet er und hakt sich bei ihm unter. Nebeneinander laufen die beiden die Treppe runter - auf einen schnellen Kaffee an einem der Holztische in dem kleinen Raum der Bahnhofsmission direkt unter Gleis 14.