Startseite Archiv Tagesthema vom 05. August 2016

Mit Unterschieden leben lernen

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Studie: Freiwillige Flüchtlingshelfer sind hoch motiviert

Die Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtlingen ist laut einer aktuellen Studie nach wie vor groß. Das freiwillige Engagement in Deutschland sei weiterhin stark, die Helfer seien hoch motiviert, erklärte die Bertelsmann Stiftung in Gütersloh bei der Vorstellung der Untersuchung. Der Vorstandssprecher der Diakonie in Niedersachsen, Christoph Künkel, unterstrich den Stellenwert der Ehrenamtlichen. Sie leisteten eine "intensive und verantwortungsvolle Arbeit", sagte er in Hannover. Der Theologe mahnte zugleich, die Belastungen der Freiwilligen im Blick zu behalten. Einige seien bereits an die Grenzen ihrer Kräfte gekommen.

Der Studie zufolge ist die Hilfe der Ehrenamtlichen hochgradig relevant, um Flüchtlingen ein soziales Ankommen zu ermöglichen. Dabei übernähmen die Helfer oft Aufgaben, die normalerweise der Staat leisten müsste. So kümmerten sie sich um Lebensmittel, Kleidung und Wohnraum. Zudem seien sie eine wichtige Brücke zwischen den Flüchtlingen und den Behörden und übernähmen Lotsen-Funktionen. So sorgten sie dafür, dass geflüchtete Menschen Angebote zur Integration überhaupt erst wahrnehmen könnten. Außerdem stärkten sie den Zusammenhalt der Gesellschaft und setzten wichtige Signale gegen Fremdenfeindlichkeit.

Künkel unterstrich die Notwendigkeit, die ehrenamtliche Helfer in Fortbildungen und Beratungen zu schulen. Zudem müsse ihnen die Möglichkeit gegeben werden, um über ihre Erfahrungen zu reden. "Uns allen ist klar: bei der Arbeit mit Flüchtlingen brauchen wir Geduld und einen langen Atem. Vieles geht nicht so schnell wie wir es uns wünschen."

Er halte es für wichtig, in einem nächsten Schritt die angekommenen Zufluchtsuchenden nach ihren Zukunftsplänen und bisherigen Erfahrungen in Deutschland zu befragen, sagte Künkel. Dies könnte helfen, die Zusammenarbeit zu verbessern. Denn Gespräche mit Helfern zeigten auch deutlich: "Unsere Kultur und die Kulturen der Ankommenden sind immer noch so unterschiedlich, dass vielen nicht immer deutlich wird, wohin unsere Hilfsbemühungen gehen."

Für die Bertelsmann-Studie wurden zwischen Januar und März in 17 Kommunen 25 Interviews geführt, darunter in Münster, Dresden, Stuttgart und Berlin. Da es sich um qualitative Interviews gehandelt habe, seien die Ergebnisse nicht repräsentativ, hieß es. Die Studie "Koordinationsmodelle und Herausforderungen ehrenamtlicher Flüchtlingshilfe in den Kommunen" wurde vom Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) an der Humboldt-Universität im Auftrag der Stiftung durchgeführt.

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Die Sängerin Judy Bailey setzt sich mit ihrem neuen Song "Home", den sie für Flüchtlinge geschrieben hat, für mehr Verständnis und Miteinander ein.

Die Diakonie Deutschland hat ihre Forderung nach der Integration von Flüchtlingen von Anfang an erneuert - auch für Flüchtlinge, die später möglicherweise nicht bleiben können.

"Diskriminierung ist ein Sicherheitsrisiko", warnte Maria Loheide, sozialpolitischer Vorstand der Diakonie Deutschland am 3. August 2016, beim Jahresempfang des Bremer Vereins für Innere Mission.

Deutschland müsse dafür sorgen, dass Flüchtlinge ihr Potenzial nutzen könnten, forderte Loheide. Deutschland als eines der reichsten Länder der Welt habe die Ressourcen dafür. Aber das Verfahren auf diesem Weg sei "noch nicht eingespielt".

Bürokratische Hürden wie die Wohnsitzauflage für Flüchtlinge oder Regelungen gegen einen Familiennachzug verhinderten die Integration, kritisierte Loheide. Sie warb insbesondere für ein ausreichendes Maß an psychosozialen Hilfen für die Flüchtlinge, die oftmals traumatische Erlebnisse verarbeiten müssen. "Physische und psychische Gesundheit ist eine Grundvoraussetzung für Integration", betonte die Sozialexpertin: "Erst wenn die Seele geheilt ist, kann eine Perspektive in unserer Gesellschaft entstehen."

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Explosionskraft

Der Vorstandsvorsitzende der Diakonie in Niedersachsen, Christoph Künkel, beobachtet mit Sorge eine "Explosionskraft rassistischen Denkens" in Europa. Die Erfolge der AfD sowie vergleichbarer Parteien und Meinungsführer in anderen Ländern seien Besorgnis erregend, sagte der evangelische Theologe im epd-Gespräch. Es reiche aber nicht, dem täglichen Rassismus allein das Ideal einer bunten multikulturellen Gesellschaft entgegenzusetzen: "Ich glaube, wir müssen stärker lernen, auch mit bereits bestehenden Unterschieden und Konfrontationen zu leben."

Das fange schon damit an, dass sich das Straßenbild in Deutschland verändert habe. Auch er habe sich zunächst nur langsam an Frauen mit Kopftüchern an den Kassen der Supermärkte gewöhnen können. Genau darum gehe es aber, betonte Künkel: "Wir müssen alle begreifen, dass unsere Identität nicht dadurch beeinträchtigt wird, wenn auch andere ethnische Gruppen ihre Identitäten mitbringen und sich daraus etwas neu zusammenfügt."

Das im vergangenen Sommer propagierte und gelebte Willkommen müsse nun im Alltag gelebt werden. Jetzt heiße das Leitthema Integration. "Aber keiner hat eine letztgültige Antwort darauf, wie Integration im Alltag umgesetzt werden kann", sagte Künkel. Das gelte im Übrigen auch für die Kirchen und die Diakonie, die in ihrer täglichen Arbeit vor ganz praktischen Fragen stünden: "Heißt Integration für uns als evangelische Kirche, dass wir künftig in unseren Altenheimen einen Gebetsraum für muslimische Bewohner einrichten? Wohin führt uns in unseren Kindertagesstätten der gemeinsam gelebte Glauben muslimischer und christlicher Kinder?"

Die Kirchen bildeten wie alle Religionen eine Überzeugungsgemeinschaft, für die nicht religiöse Vielfalt, sondern der je eigene Glauben bestimmend sei. "Sind wir damit vielleicht sogar in der Tendenz integrationsfeindlich?", sagte der Oberlandeskirchenrat. Die Angst vor der Vermischung verschiedener Religionen, dem sogenannten Synkretismus, sei jedenfalls in allen religiösen Gemeinschaften hoch. Dies sei aber eine ideologische Frage, die nicht die konkrete Arbeit mit Flüchtlingen in den Städten und Gemeinden berühre.

Was bislang von den haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kirchen für die angekommenen Flüchtlinge geleistet worden sei, könne gar nicht hoch genug geschätzt werden. Nun gelte es, die Integration voranzubringen, betonte Künkel. "Das bedeutet: harte Arbeit, einen langen Atem und auch den Mut, Auseinandersetzungen um unsere Kultur und Werte zu führen. Wenn dann alle gelernt haben, mit Unterschieden zu leben, ist der wichtigste Schritt geschafft."

epd