Ewiger Bund
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Eine Bewährungsprobe für den Glauben
Hätte sich eine alte Tradition aus Oberlausitzer Frömmigkeit, von der ich kürzlich las, allgemein durchgesetzt, wäre es nun an uns, zum Gottesdienst an diesem 10. Sonntag nach Trinitatis in Trauerkleidung zu erscheinen. An diesem Tage geht es bekanntlich um das Gedächtnis der Zerstörung Jerusalems, zeitnah im Übrigen zum jährlichen Gedenken in den jüdischen Gemeinden. Im alten Zittauer Gesangbuch, so lese ich, soll die ausführliche Schilderung des jüdischen Geschichtsschreibers Josephus von der Zerstörung des Tempels durch den römischen Feldherrn Titus abgedruckt gewesen sein, und ihre Lesung mit all den haarsträubenden Einzelheiten war der Predigt vorangestellt. Es ging also um ein solidarisches Trauern, im Wissen um einen Verlust, der Christen und Juden gleichermaßen betraf.
Ganz sicher richtig ist, dass dieser Sonntag in der heutigen Zeit noch einmal in einem ganz anderen Horizont zu stehen kommt. Den jüdischen Gemeinden ist im 20. Jahrhundert Unrecht in einem Maße zugefügt worden, dass die zwei Tempelzerstörungen wie eine Miniatur erscheinen lässt – und durchaus manche an Gott irre werden lässt.
Zur Trauer müssen daher Einsicht in Schuld und Gedanken an Umkehr kommen – und vor allem die Besinnung auf das lange Zeit verschüttete Evangelium von der unverbrüchlichen Liebe Gottes zu seinem Volk. Denn nur so finden Anteilnahme, Empathie und rechte Trauer zur wahren Gestalt.
Im Predigttext weist Paulus einen Weg dahin auf: Denn auch er trauert zutiefst. Unerklärlich und unfassbar erscheint es ihm, dass seine jüdischen Stammverwandten sich dem Heil im Glauben an Jesus Christus verschließen. Er wünschte, selber verflucht zu sein, wenn das die Dinge ändern würde. Er ist in einem Maße betroffen, dass er selber an Gott irre werden könnte. Denn hat Gott ihnen nicht einen ewigen Bund geschworen, hat er sie nicht zu seinem eigenen Volk auserwählt, hat er ihnen nicht die Gebote zum Leben gegeben? Ist Gott denn nun ungerecht und unzuverlässig?
Die Erklärungen, die der Apostel schließlich versucht, sind feinsinnig, spitzfindig und intellektuell anspruchsvoll – Paulus erweist sich als der hochgelehrte Schriftgelehrte, der er ja schließlich ist. Doch alle Erklärungsversuche wirken hilflos, und genügen ihm selbst nicht. Dann aber ist es, als würde er sich besinnen auf seine eigenen Ausführungen im Römerbrief: Hatte er doch selbst eindrücklich und ausführlich das Evangelium von der Rechtfertigung des Menschen dargelegt und war zu dem verbindlichen Schluss gekommen, dass „nichts uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn“.
Genau dieser Einsicht ordnet er dann seine Trauer und sein Unverständnis über den Weg Israels unter – und findet damit offenbar aus seinem Irrewerden an Gott und aus seiner Trauer heraus, findet am Ende zu einem überschwänglichen Lob des Gottes, in dessen unbedingtem Erbarmen allein die Lösung liegt.
Es ist ein ungewöhnlicher, aber offenbar gelingender Ansatz, mit Trauer und Zweifeln umzugehen. Und sogar mehr als das: Es ist die erste Bewährungsprobe der Botschaft von Gottes Nähe und Liebe, von der eben nichts scheiden kann – auch nicht die unterschiedlichen Arten, an diese Liebe zu glauben.
Pastor i.R. Wilhelm Bechtler