Sie können es nicht lassen
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Ältere singen mit Anspruch und Leidenschaft
Schon als Mädchen hat Sabine von Graevemeyer in der Familie und später im Internat oft gesungen. „Mit meiner Schwester habe ich am Bahnhof gesungen, als wir auf den Zug warteten, da hat uns der Bahnhofsvorsteher sogar in seinen Chor eingeladen“, erinnert sich die heute 87-Jährige an die Jugend in ihrer Heimat Bad Doberan. Sie hat gerade Zeit, zu erzählen, denn es ist Pause bei der Seniorenkantorei in Hannover. Hier in der Neustädter Hof- und Stadtkirche proben heute gut 40 Rentner zum letzten Mal vor der Sommerpause. Von Graevemeyer hat ihr ganzes Leben gesungen. Aus ihrem letzten Chor trat sie mit 80 aus. Doch sie konnte das Singen nicht lassen.
„Viele kommen zu uns, weil sie in anderen Chören nicht mehr gebraucht werden“, erklärt Kantorei-Leiter Lothar Mohn. Andere hätten nun nach ihrem Berufsleben endlich Zeit zu singen, und machten erstmals in einem Chor mit. Die hannoversche Seniorenkantorei existiert seit elf Jahren. Das Projekt zieht Ältere aus ganz Hannover und dem Umland an. Gut 60 Menschen zwischen 60 und 94 Jahren machen insgesamt mit. Sechs Konzerte geben sie jedes Jahr. Höhepunkt war ein Auftritt zum zehnjährigen Bestehen zusammen mit dem Seniorenorchester der Stadt, sagt Mohn. „Da haben wir hier in der Kirche das Bonhoeffer-Oratorium gesungen.“
Doch nicht alles geht mehr. „Ältere Leute können nicht mehr so hoch singen“, erklärt der Kantorei-Leiter. Die Motetten von Bach scheiden deshalb zum Beispiel aus dem Lieder-Inventar aus. Hörgeräte sind ebenfalls von Nachteil: Die Geräte verstärken die Höhen und die Leute singen dann auch oft zu hoch. Bei anderen Sängern wird die Luft schneller knapp als früher. Auch langes Stehen ist für manche ein Problem – sie müssen dann im Sitzen singen.
Während der Proben entführt Claudia Erdmann deshalb immer wieder Sänger-Pärchen in einen Raum im Kirchturm. Die Stimmbildnerin stärkt dort mit Übungen den „Singe-Apparat“, wie sie erklärt. Es gehe darum, die Singstimme geschmeidig zu halten. „Viele wohnen allein und sprechen hier bei der Probe ihre ersten Worte am Tag.“ Heute üben sie den Rippenbogen aufzustellen. „Das lässt sich nur durch einen bewussten Befehl des Gehirns machen“, so Erdmann. Dann sollen sich die Frauen gegenseitig ansingen und ihre Hörfläche mit den Händen vergrößern. So wird der Schall zurückgeworfen und der Klang verstärkt. „Lullilullilu… Seien Sie mutig“, ruft die Stimmbildnerin. „Probieren Sie aus, was in der Höhe geht.“
Vor der Probe hat sie sich schon mit dem Chor eingesungen. Dabei sollten sich die Singenden wie Schilfhalme hin und herwiegen, um die innere Muskulatur zu aktivieren. Atmung und Haltung sind beim Singen sehr wichtig, betont Erdmann, die unter anderem auch mit Jugendchören zusammenarbeitet. Die Arbeit unterscheidet sich gar nicht so sehr voneinander, sagt sie. „Wir springen hier nicht so viel herum - aber im Gegensatz zu vielen Pubertierenden, wissen die älteren Sänger, was Körperspannung ist.“ Da muss Erdmann weniger machen.
Stefan Korinth, Evangelische Zeitung