Wie kann Integration gelingen?
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So geht es Flüchtlingen nach der Erstaufnahme
Das Schlimmste für Nour Shahoud ist die fehlende Perspektive. "Es macht mir Angst, dass ich nicht weiß, wann ich weiter Grafikdesign studieren kann", erzählt die 26-Jährige. Sie ist vor knapp einem Jahr aus Syrien geflohen. Nun lebt sie zusammen mit ihrer Mutter und zwei Brüdern von 400 Euro im Monat in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in Hannover. Nour ist froh und dankbar, in Deutschland zu sein, doch ihr fehlt die Normalität. In Syrien wäre sie jetzt fertig mit dem Studium, hier weiß sie nicht einmal, ob ihre Leistungen anerkannt werden. Ihr größter Wunsch: "So schnell wie möglich wieder an die Uni."
So wie Nour kamen im vergangenen Jahr rund eine Million Menschen nach Deutschland. Allein in Niedersachsen wurden nach Angaben des Innenministeriums von Januar 2015 bis Mitte Juli 2016 insgesamt 124.570 Asylsuchende registriert. Derzeit ist es ruhiger geworden. In den Erstaufnahmen und Notunterkünften in Niedersachsen waren laut Innenministerium Anfang Juni noch rund 3.800 Menschen untergebracht, Anfang Dezember waren es noch fast 28.900. Die Erstaufnahme-Lager sind so gut wie leer. Rund 2.200 Flüchtlinge wurden seit Beginn des vergangenen Jahres abgeschoben, etwa 8.220 gingen freiwillig zurück. Knapp 98.400 Neuankömmlinge leben mittlerweile in niedersächsischen Städten und Gemeinden, haben ein Dach über dem Kopf und erhalten finanzielle Unterstützung. Ist nun alles gut?
Eher nicht, sagt Kai Weber vom niedersächsischen Flüchtlingsrat. Zwar setze Niedersachsen stärker als andere Bundesländer auf die sogenannte dezentrale Unterbringung von Flüchtlingen. Mehr als 80 Prozent leben vor allem außerhalb der Großstädte in Wohnungen anstatt in großen Sammelunterkünften. Doch viele von ihnen warten monatelang auf einen Platz im Deutschkurs, wollen dringend wieder arbeiten oder suchen Anschluss. "Oft werden die Menschen auf Kommunen verteilt und dann kümmert sich keiner mehr um sie." Weber fordert darum eine nachhaltigere Aufnahmepolitik, die den Flüchtlingen von Anfang an eine Perspektive aufzeigt.
Genau das tut der hannoversche Flüchtlingshilfe-Verein "Crescent Noah". Als der Verein vor einem Jahr gegründet wurde, half das Team von anfangs acht Ehrenamtlichen den Flüchtlingen vor allem bei der Wohnungssuche und Einrichtung, erzählt Helferin Susan Isa. "Jetzt versuchen wir, auf den zweiten Schritt einzugehen und die Flüchtlinge im Alltag zu begleiten." Also Gelder zu beantragen, Post von Behörden zu beantworten, einen Kita-Platz zu finden oder zum Arzt zu gehen. Außerdem plant der Verein, deutsch-arabische Sprach-Tandems zu organisieren. "Wenn die Sprache da ist, kann man sich besser integrieren."
Nour trifft sich regelmäßig mit Susan Isa, die syrische Wurzeln hat und fließend Arabisch spricht. Die 26-Jährige genießt die Unterhaltungen mit der Helferin. "Eigentlich bin ich sehr offen und würde gern Leute kennenlernen, aber es ist wegen der Sprache unmöglich." Auch Nours Bruder fühlt sich einsam, er möchte heiraten. Doch ein muslimischer Mann braucht einen Job, bevor er eine Familie gründen kann. Bei Behörden wie dem Sozialamt oder dem Jobcenter wird das Geschwisterpaar oft von einem Ansprechpartner zum nächsten geschickt. "Die Organisation der Abläufe ist chaotisch."
Das bestätigt auch Kai Weber. Solange das Asylverfahren läuft, ist die Agentur für Arbeit für Flüchtlinge zuständig. Wird ihr Asylantrag bewilligt, wechselt die Zuständigkeit zum Jobcenter. "Dieser Übergang ist oft verbunden mit monatelangem Warten." Er wünscht sich darum eine gemeinsame Verwaltung der Einrichtungen. "In Hildesheim gibt es von Anfang an eine gemeinsame Beratung von Arbeitsagentur und Jobcenter." Auch die Vermittlung von Flüchtlingen in 1-Euro-Jobs sieht Weber kritisch: "Wir sollten lieber an die Qualifikation der Menschen anknüpfen."
Nour hat genau diese Erfahrung vor einigen Wochen gemacht. Im Rahmen eines Foto-Workshops für Flüchtlinge wurde ihr ein Praktikum in einer Grafikabteilung angeboten. Generell erlebe sie in Deutschland eine große Offenheit und Hilfsbereitschaft, sagt die 26-Jährige. "Es ist sehr schön, dass ich für das Praktikum als Individuum mit meinen eigenen Talenten wahrgenommen wurde."
Der Bielefelder Konfliktforscher Andreas Zick wirbt nach den Axt-Attacken eines mutmaßlich islamistischen Attentäters in Würzburg für mehr Prävention. Diese müsse bereits einsetzen, wenn Menschen sich in extremistischen Szenen bewegten oder Ideologien gut fänden, die Gewalt rechtfertigten. "In Schulen und an Ausbildungsstätten kann man viel machen", sagte Zick im Interview mit der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" (Mittwochsausgabe).
Allerdings bräuchten die Schulen und Betriebe für diese zusätzliche und schwere Arbeit Unterstützung. Auch Freunde und Familien müssten gestärkt werden. Zudem sei die Prävention in Gefängnissen und damit die Arbeit mit bereits radikalisierten Menschen dringend geboten. "Für die Prävention braucht man Gespür. Man muss die Symbole deuten können", sagte der Professor für Konfliktforschung an der Universität Bielefeld. "Wenn Taten passieren, dann stellt sich oft heraus, dass die Täter vorher im sozialen Netzwerk etwas haben durchsickern lassen."
Hilfe biete etwa das Beratungstelefon des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. "Solch ein Angebot muss eigentlich in jeder Unterkunft hängen und bekannt sein." Soziale Netzwerke seien das wichtigste Werkzeug der Islamisten, sagte Zick. Der sogenannte Islamische Staat habe nicht über alles Kontrolle. Der IS rufe aber zunehmend in Europa zu Taten auf und setze Aktionen in Gang, die er gar nicht mehr zu kontrollieren brauche. "Das ist die neue Gefahr. Wir müssen uns mehr denn je anstrengen, anfällige Menschen wieder einzufangen."
epd