Nicht mehr ohne Karim
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Immer mehr unbegleitete Flüchtlingskinder leben in Deutschland in Pflegefamilien
In seiner Heimat in Syrien hat Abdulkarim gerne Gitarre gespielt. "Aber dann ist eine Rakete in der Straße detoniert. Da haben meine Eltern mich nicht mehr zum Unterricht gehen lassen", erzählt der 14-Jährige. Jetzt lebt Abdulkarim in Bremen bei Familie Wilken und versucht es mit Breakdance. Demnächst kommt vielleicht noch Basketball dazu. "Obwohl ich eigentlich faul bin", meint er grinsend. Außerdem gefällt ihm Geige: "Wenn ich Geigenmusik höre, finde ich das...". Er sucht nach dem passenden deutschen Eigenschaftswort: "Wow!", bricht es dann aus ihm heraus.
"Am liebsten würde Karim alles machen", sagt Swenja Wilken. "Aber wir schauen erst mal nach und nach, was ihm wirklich gefällt." Sie und die anderen Familienmitglieder rufen ihn bereits bei seinem Spitznamen. Seit Januar wohnt Karim bei den Wilkens. "Das ist schon so normal, dass er hier ist", sagt Mattis (13) und wirft seinem Gastbruder ein Lächeln zu: "Den kann man sich gar nicht mehr wegdenken."
So wie Karim leben in Deutschland nach einer groben Schätzung des Hamburger Kompetenzzentrums Pflegekinder 1.500 bis 3.000 Kinder und Jugendliche, die ohne ihre Eltern geflüchtet sind, in Gast- oder Pflegefamilien. Insgesamt kamen 2015 nach Angaben des "Bundesfachverbands unbegleitete minderjährige Flüchtlinge" rund 60.000 nach Deutschland. Die Plätze in betreuten Wohngruppen reichen oft nicht mehr aus.
Aus den Städten, in denen die meisten Jugendlichen untergekommen sind, wie Bremen, Hamburg oder Nürnberg, kommen erste positive Erfahrungsberichte mit Pflegefamilien. Immer mehr Jugendämter suchen nun solche Plätze für minderjährige Flüchtlinge.
Karim spricht inzwischen schon sehr gut deutsch. Mattis versteht sich gut mit ihm. "Mit ihm kann ich schwimmen gehen, kicken, Computer spielen oder chillen", sagt Matthes und ergänzt: "Mit meiner Schwester geht das nicht."
In der Schule wechselte Karim vor kurzem aus der Vorbereitungsklasse in die Regelklasse. "Dort habe ich auch schon einen Freund", erzählt er stolz.
Zu Beginn überwog bei vielen Fachleuten die Skepsis, ob denn Familien den meist 14- bis 17-Jährigen tatsächlich einen Schutzraum bieten können. Viele hätten schreckliche Dinge erlebt, seien aber gleichzeitig auf der manchmal jahrelangen Flucht sehr selbstständig geworden, sagt Konstanze Jäger, Fachberaterin beim Pflegekinderdienst PiB in Bremen.
Anders als deutsche Kinder und Jugendliche in Pflegefamilien hätten die meisten Flüchtlingskinder in der Heimat noch eine intakte Familie, ergänzt Alexandra Szylowicki vom Kompetenzzentrum Pflegekinder. Andere seien von ihr auf der Flucht getrennt worden. "Einige kommen sogar mit einem Auftrag, etwa die Familie nachzuholen oder die Angehörigen daheim finanziell zu unterstützen."
Auch Karim hofft, dass seine Eltern und die beiden jüngeren Geschwister bald aus Damaskus nach Deutschland kommen können. Schweren Herzens haben sie ihren Ältesten mit einer befreundeten Familie auf die Flucht nach Europa geschickt: "Ich hatte große Angst um ihn. Ich wollte nicht, dass Abdulkarim in die Kriegswirren gerät", schreibt sein Vater Hassan Fandi über Whatsapp. Sie hätten keine Möglichkeit gehabt, als Familie gemeinsam zu fliehen.
Für viele Jugendliche sei allerdings noch nicht einmal die eigene Bleibeperspektive klar, sagt Szylowicki. "Die aufnehmenden Familien müssen also mit großen Belastungen und Unsicherheiten umgehen können".
Szylowicki leitet derzeit ein Projekt, dass bis Ende 2017 Erfahrungen der Pflegefamilien zusammentragen soll. Erste Berichte seien überwiegend positiv. Die Studie ist vom Sozialministerium in Auftrag gegeben. Das Kompetenzzentrum arbeitet dafür mit der Diakonie Deutschland zusammen. Szylowicki schätzt, dass etwa für zehn bis 15 Prozent der alleinreisenden jugendlichen Flüchtlinge eine Pflegefamilie oder wenigstens eine Patenschaft in Frage komme.
Martina Schwager (epd)