Startseite Archiv Tagesthema vom 23. Mai 2016

„Alles, was ich brauche, ist Jesus“

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Vor dem verwitterten blauen Holztor steckt ein Kreuz aus Birkenästen in der Erde. Daneben steht ein alter vergilbter Plastikstuhl. Keine Klingel, kein Türschild, keine Straßenbezeichnung, keine Hausnummer. Wer Maria Anna Leenen sucht, findet das abgelegene, in die Jahre gekommene Heuerhaus im nördlichen Landkreis Osnabrück nur dank ihrer Beschreibung. Viele sind es ohnehin nicht, die dorthin wollen. Die 59-Jährige ist eine von rund 80 Eremiten im deutschsprachigen Raum.

Mit festem Schritt kommt sie um die Hausecke gebogen - eine kleine, kräftige Frau. Ein offenes, jungenhaftes Lachen spielt auf ihrem Gesicht. „Willkommen in meiner Klause St. Anna“, ruft sie fröhlich. Das himmelblau-weiß karierte Hemd passt zu ihren weißen, kurzgeschnittenen Haaren. Der Händedruck der früheren Sporttaucherin ist zupackend. Mit einer ausholenden Armbewegung stellt sie ihre einzigen Mitbewohner vor: Eine Horde lebhafter Ziegen tummelt sich im Auslauf gleich neben dem Wohnhaus.

Leenen ist die bekannteste Eremitin in Deutschland - soweit diese Eigenschaft auf eine Einsiedlerin überhaupt zutreffen kann. Sie forscht und hält Vorträge über Eremitentum, unterhält Internetseiten, hat ein Netzwerk für Eremiten in Europa aufgebaut und organisiert regelmäßige Treffen. Sie ist zu einer vielgefragten Expertin für ihre Lebensweise geworden.

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Die 59-jährige Maria Anna Leenen ist eine von rund 80 Eremiten im deutschsprachigen Raum. Bild: epd-Bild/ Thomas Osterfeld

„Mir ist es wichtig, dass ich weitergebe, was ich erfahre“, sagt Leenen dazu. Sie hat mehrere Bücher über eremitisches Leben verfasst. Im März ist im adeo-Verlag unter dem Titel „Ganz weit draußen“ erstmals ein Roman erschienen. Die Geschichte für einen zweiten Band hat sie schon im Kopf. Zudem schreibt sie für Zeitungen und Zeitschriften.

„Dass Eremiten heute noch völlig verlassen und ohne Kontakt zur Außenwelt leben, ist sowieso ein Klischee“, sagt Leenen trocken. In der christlichen Tradition waren die sogenannten Wüstenväter im dritten Jahrhundert die ersten, die eremitisch, also abgeschieden und einsam lebten. Seitdem hat es immer Eremiten gegeben, sagt die Expertin.

Im katholischen Kirchenrecht ist diese Lebensform sogar eigens verankert. Danach gibt es Ordenseremiten, die einer Bruder- oder Schwesternschaft angeschlossen sind und von ihr versorgt werden, und Diözesaneremiten wie Leenen, die dem jeweiligen Bischof unterstehen. „Allerdings bekomme ich keinen Scheck von ihm. Das Schreiben gibt mir die Möglichkeit, gerade genug Geld zu verdienen und trotzdem mein Einsiedlerleben zu führen.“

Früher einmal wollte Leenen reich werden. Zusammen mit ihrem Freund ging sie nach Venezuela. Mit einer Büffelfarm dachten sie, das große Geld zu machen. Damals war sie Ende 20. Dann fiel ihr dort, mitten in der weiten Steppe, ein Buch in die Hand, über Marienerscheinungen - ausgerechnet ihr, der lutherischen Protestantin.

Sie las eher aus Langeweile darin. „Und dann war es plötzlich, als wäre eine Mauer zusammengebrochen oder ein Schleier zerrissen. Es war wie ein innerer Knall.“ Leenen sucht nach Worten für etwas, das sich kaum in Worte fassen lässt. „Das war die Kehre in meinem Leben, eine Be-Kehrung, eine Wende um 180 Grad. Ich wusste plötzlich: Alles, was du brauchst, ist dieser Jesus.“ Sie trat kurz darauf zum katholischen Glauben über und ging in ein Kloster. „Dort entdeckte ich, dass ich zur Eremitin berufen bin.“

Seitdem stellt sie ihr Leben in den Dienst Gottes. „Das heißt für mich ein Leben des Gebetes und der Kontemplation in Zurückgezogenheit und Schweigen“, zählt sie sachlich auf. Maria Anna Leenen betet fünf Mal am Tag. Mehrere Stunden verbringt sie so im schönsten Zimmer des alten Hauses.

Auch die Einsamkeit ist bei ihr kein Selbstzweck. Alleine hätte sie es nie geschafft, das Haus, in dem sie seit zwölf Jahren lebt, bewohnbar zu machen. „Hier haben ungefähr 100 Menschen mitgearbeitet“, berichtet sie ein wenig stolz. Und immer mal wieder kommen Menschen, die bei ihr ein, zwei Tage zur Ruhe kommen oder reden wollen. „Aber zwei, drei Monate im Winter bin ich hier komplett alleine mit meinen Ziegen. Und ich genieße es.“

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Bild: epd-Bild/ Thomas Osterfeld
 

„Ich lebe in großer Balance.“

Leenen verbeugt sich tief, als sie ihre Kapelle betritt. Der liebevoll hergerichtete, helle und in warme Farben getauchte Raum befindet sich gleich neben dem Badezimmer. Eine Osterkerze steht auf dem Holzfußboden, daneben ein Strauß gelbe Rosen. Mehrere Hocker, eine Bank und farbenfrohe Teppiche laden zum Verweilen, eine Bibel und ein Gebetbuch zum Stöbern.

Doch die Auseinandersetzung mit Gott erschöpft sich nicht in den täglichen Gebetszeiten in der Kapelle. Leenen wählt jeden Morgen einen Bibelvers aus, den sie den ganzen Tag über im Herzen bewegt. „Ich wiederhole das Wort immer und immer wieder und es betet in mir selber.“ 

Die Eremitin schließt bewusst und freiwillig vieles aus ihrem Leben aus, was für die meisten Menschen selbstverständlich ist: Sie hat weder Auto noch Fernseher. Heizen muss sie mit Holz. Ihre Möbel und Kleider sind Second Hand. Shoppen ist tabu, Urlaub ebenso. Sie erlaubt sich selten Fleisch, noch seltener ein Glas Wein, keine Grillabende mit Freunden.

„Aber ich veranstalte hier auch keine Olympiade der Einfachheit“, sagte sie resolut: „Ich streue keine Asche über mein Essen. Es darf schon auch schmecken.“ Es gehe nur darum, den Kopf frei zu haben und alles dem unterzuordnen, was der Gottsuche dient. „Ich kann die Welt nicht verlassen, aber ich kann das Weltliche lassen.“

Leenen vermisst nichts. „Ich lebe in großer Balance, habe Bewegung an frischer Luft, esse gesund. Von mir aus kann das so weiter gehen, bis ich 95 bin.“ Ein zufriedener Alltag ist ihr wichtig. „Und ab und zu darf auch mal ein Sahnehäubchen, ein Glücksmoment dabei sein - das ist wenn bei der Geburt der Ziegenbabys alles gut geht.“

Martina Schwager (epd)
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Bild: epd-Bild/ Thomas Osterfeld

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Leenen ist die bekannteste Eremitin in Deutschland. Bild: epd-Bild/ Thomas Osterfeld