Gottes erste Liebe
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„Gott ist ein Gebet weit von uns entfernt.“ Das ist ein Satz der jüdischen Dichterin Nelly Sachs. Sie entkam dem Holocaust, aber vom Leiden ihrer jüdischen (und anderen) Mitmenschen war ihr Leben bestimmt. Großartige Gedichte hat sie uns hinterlassen. Was wäre Deutschland ohne seine jüdischen Dichter und Denker – ohne Heinrich Heine, Kurt Tucholsky, Ernst Toller oder Walter Rathenau? Unser Land wäre so viel ärmer gewesen und geblieben ohne sie alle.
Ich schaue auf den Römerbrief-Text für diesen Sonntag. Es ist der Abschluss der drei für mich nahezu entscheidenden Kapitel in diesem wichtigsten Brief des Paulus, seinem Vermächtnis. In den Kapiteln 9 bis 11 fragt der Apostel danach, ob Israel weiterhin Gottes auserwähltes Volk ist. An einigen Stellen klingt das für mich immer noch ziemlich arrogant, etwa nach dem Motto: Die Juden versuchen durchaus zu glauben, aber sie haben den entscheidenden Hinweis Gottes nicht wirklich erkannt. Andererseits beantwortet Paulus die von ihm selbst gestellte Frage, ob Gott, sein Volk verstoßen habe, mit einem geradezu erschrocken klingenden „Keineswegs!“
Meine Überzeugung ist: Überlassen wir Gott die Entscheidung, ob er am Ende alle Menschen annehmen wird oder nicht. Die Christenheit hat im Laufe der Geschichte so viele schreckliche Verbrechen begangen, dass ich nicht den geringsten Grund dafür sehen kann, sie dürfe sich über andere Religionen überheben. Und wenn im Zweiten Testament eindeutig Jesus als der einzige Weg zu Gott beschrieben wird, möchte ich darauf hinweisen: Mit der Bibel, auch dem Neuen Testament, unter dem Arm war im Laufe von zwei Jahrtausenden fast alles zu begründen, auch das Unentschuldbare….
Mich bewegt viel mehr: Wo und wie erkenne ich Gottes Weg für mich, für andere, für die Welt? Meine sehr persönliche Antwort: Immer erst hinterher. Ich habe gegen den Rat meiner Eltern und diverser Freunde Theologie studiert – es hätte ein Irrtum sein können, ein großer Fehler. War es aber nicht. Ein mir mehr als 20 Jahre nach seinem frühen Tod noch sehr wichtiger Freund hatte diese Idee für mich. Die entscheidende Tür in meine Zukunft ging auf. Dabei war dieser Freund alles andere als ein Kirchenchrist. Das Judentum interessierte ihn viel mehr als die Kirche.
Das Judentum interessiert mich auch sehr. Jesus war Jude. Auch Paulus gehörte dazu – Römer 9 bis 11 machen das deutlich. Der Sonntag Trinitatis könnte eine gute Gelegenheit sein, sich mit unseren jüdischen Wurzeln noch einmal neu zu befassen, vom Judentum zu lernen, es wieder zu entdecken. Die Unerforschlichkeit der Wege Gottes wird – so meine ich – am Weg des Volkes Israel viel deutlicher als an vielen anderen Wegen. Aber Israel ist und bleibt „Gottes erste Liebe“.
Ulrich TietzeUlrich Tietze Bild: peivat