Stummer Zeuge Erde
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Braun ist die Erde aus Auschwitz-Birkenau, darin liegt ein Stück vom Stacheldrahtzaun des NS-Konzentrationslagers. Gleich darüber leuchtet es hell. Feiner Sand, wie Puderzucker, erinnert an den Urlaub am Strand des polnischen Ostseebades Kolobrzeg. Eine Handbreit davon entfernt steht Erde vom Tiananmen-Platz in Peking, wo im Juni 1989 auf Geheiß der chinesischen Führung Studentenproteste blutig niedergeschlagen wurden. Es sind drei von mehr als 5.400 „Erdbüchern“ im dreiflügeligen Altar der Hamburger Künstlerin Marianne Greve, der in der evangelischen Eine-Welt-Kirche des niedersächsischen Heidestädtchens Schneverdingen steht.
Das Triptychon bietet Platz für insgesamt 7.000 gespendete Erdproben aus der ganzen Welt, die in „Büchern“ aus durchsichtigem Acryl verwahrt werden. „Die Erde und der Altar sind ein Symbol für die Vielfalt auf unserem Globus, für die Gemeinschaft der Weltbevölkerung und für die Abhängigkeit vom Boden, von und mit dem jeder lebt“, erklärt Marianne Greve.
Dass die Erden aus Auschwitz, Kolobrzeg und Peking im Altar so dicht beieinanderstehen, ist reiner Zufall. „Eine soziale Inszenierung“, sagt Greve. „Durch die Zufallsverteilung steht das Erdbuch des Dalai Lama neben der Probe einer Putzfrau - niemand kann sich einen Platz in der ersten Reihe kaufen.“
Alle Boden-Bücher sind im Internet dokumentiert - und erzählen dort als stumme Zeugen von Katastrophen und Glücksmomenten: Erde aus den South-Western-Townships (Soweto) bei Johannesburg, wo die südafrikanische Apartheid-Regierung 1976 einen Schüleraufstand blutig niederschlug. Eine Probe von der Insel Madeira im Atlantik, die mit ihren üppigen Blumengärten von ihrer Spenderin als sehnlichstes Reiseziel beschrieben wird. Erden aus Tschernobyl und Gorleben, die vom Widerstand gegen die Atomkraft zeugen.
Dramatisch liest sich die Geschichte einer Probe aus Fröttmaning bei München. „Das versunkene Dorf“, nennt Spenderin Susann Reese die Ortschaft, aus der ihre Erde stammt und die schrittweise abgerissen wurde. Teile von ihr mussten zuerst einer Autobahn weichen, dann einer Kläranlage, einer Mülldeponie und am Ende dem Bau der Allianz-Arena des FC Bayern.
Rostrot leuchtet die Erde vom australischen Ayers Rock - für die Aborigines heiliger Boden. Ein anderes Buch ist gefüllt mit dunkelbrauner Erde aus Hambantota auf Sri Lanka, wo 2004 Tausende durch einen Tsunami getötet wurden. Eine Mutter hat Erde des Ortes, an dem ihre Tochter ermordet wurde, in die Kirche gebracht. „Viele empfinden es als Trost, mit ihrer Erfahrung angenommen zu werden“, sagt Marianne Greve.
Natürlich findet sich auch Erde aus biblischen Orten wie dem Garten Gethsemane in Jerusalem, aus Bethlehem, Nazareth oder vom Berg Sinai. Die Boden-Bücher im Altar stünden für ein versöhntes Miteinander, auch zwischen den Religionen, sagt Theologe Hasselberg, der seit 18 Jahren in der Gemeinde arbeitet: „Hier hat jeder seinen Platz.“
Massive Stahlstützen sorgen dafür, dass der in seiner Art einzigartige Altar am Ende bis zu sieben Tonnen Erd- und Gesteinsproben aufnehmen kann. Die meisten Länder der Welt sind schon vertreten, besonders die Urlaubsgebiete rund um das Mittelmeer. Aber 56 fehlen noch, darunter so exotische wie die Inseln Tuvalu, Antigua und Barbuda, aber auch Nordirland, Katar und Mazedonien. Also wird weiter gesammelt. Zu Recht, schreibt Monika Gieland aus Lüneburg zu ihrer Boden-Spende: Der Altar erinnere daran, „dass wir nur eine Mutter Erde haben, die wir pfleglich behandeln sollten.“