Verliebte
Die Darstellung der Archivmeldungen wird kontinuierlich verbessert. Sollten Sie Fehler bemerken, kontaktieren Sie uns gerne über support@systeme-e.de
Der Spaziergang führt uns durch benachbarte Straßen. Häuser, Wege, Gärten kennen wir gut, manche Menschen grüßen freundlich. Vieles ist vertraut: Hier die große Kastanie. Dort ein bäuerliches Haus mitten in der Gegend, wo sonst Flachdachbauten stehen. Und die Bank, die ein um das andere Mal zu einer kleinen Pause einlädt.
Es gibt immer auch Neues zu entdecken. Eine Katze stellt sich uns in den Weg, die stolz ihr samtiges Fell präsentiert. Und die rosafarbenen Blätter des Kirschbaums heben das Gefühl in diesen Tagen.
Es ist Abenddämmerung. Irgendetwas hält unsere Schritte auf und wir bleiben unwillkürlich am Holzzaun eines Hauses stehen. Ein Zimmer im Erdgeschoss ist warm erleuchtet, einige Menschen sitzen da im Kreis. Es ist der Eindruck einer freundschaftlichen Runde, die uns fasziniert. Aber da ist noch mehr. Und dann verstehen wir: Da sind Menschen zusammen, die singen.
Etwas Zauberhaftes von der Stimmung dort ist selbst hier draußen zu spüren. Ein Gedanke geht mir durch den Kopf: Das muss eine besondere Gruppe sein, vertieft in eine andere Realität, ergriffen vom gemeinsamen Erleben, vielleicht mehr: von einem gemeinsamen Traum. Das, was sie dort machen, tun sie beseelt. Da ist eine Verbindung zwischen diesen Menschen, die nicht so leicht in Worte zu fassen ist.
Die Mitglieder der christlichen Gemeinde nennt Paulus „Heilige“ und „Auserwählte“. So mag man sich selbst nicht bezeichnen. Das klänge vermessen. Was für ein Anspruch würde sich damit auch verbinden: Selbst wenn sie sich ethisch korrekt verhalten wollen, so können auch Christen nicht aus der eigenen Haut. Auch unter ihnen gibt es Zorn, Wut, Bosheit, Verleumdung und Beleidigung. Das weiß auch Paulus und schreibt davon ein paar Verse vorher. Paulus sagt aber: Euch ist Liebe geschenkt – deshalb seid ihr heilig und auserwählt.
Geliebte tuen Dinge, die anderen schwerer fallen. Sie springen nach einer Auseinandersetzung über den eigenen Schatten und gehen auf den anderen zu. Sie reichen die Hand zur Versöhnung. Geliebte rechnen nicht alles auf, denn sie haben schon, was sie wirklich brauchen. Geliebte sind gelassener. Sie geben Liebe weiter. Da passt das Bild vom Kleiderwechsel: Die Liebe ist ein Angebot, immer wieder Stück für Stück Altes abzulegen und Neues anzuziehen: Erbarmen, Güte, Demut, Freundlichkeit und Geduld.
Ja, es ist fast so, als seien Geliebte nicht ganz von dieser Welt. Ihre Liebe umgibt sie und strahlt weiter aus. Was für ein Glück! Singt dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder! (Ps 98, 1)
Auch beim Singen in unseren Gottesdiensten erlebe ich, dass uns in den Reihen der Kirche etwas Besonderes verbindet. In den Gesängen in unseren Gottesdiensten ist etwas davon zu spüren, dass wir Geliebte Gottes sind. Als einzelne und auch als Gemeinschaft: Unser Singen ist das Einstimmen in das Lied der anderen: in das Lied der Gemeinde und in die Glaubenslieder der Jahrhunderte – wie die Psalmen, die auch Jesus sang.
Der Eindruck von der singenden Runde begleitet mich seit dem Spaziergang. Das Bild bewegt mich. Und ich frage mich, was wohl Menschen empfinden, die eher zufällig einen unserer Gottesdienste erleben. Vielleicht geht es ihnen ähnlich wie mir bei dem Blick in das Zimmer. Vielleicht sehen und spüren sie etwas, was uns als Gemeinde sonst nur weniger bewusst ist.
Joachim LauJoachim Lau. Bild: privat