Tauf mich!
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So groß wie ein Tischtennisball – im Querschnittsbild ihres Gehirns ist er deutlich zu sehen: der Tumor. In kurzer Zeit gewachsen, deshalb wohl bösartig, sagt der Arzt. Soweit die Diagnose für die 68-Jährige, noch eine Nacht, dann ist die Operation.
Am nächsten Tag: Neonlampen surren, eine Beatmungsmaschine pumpt Sauerstoff, es riecht nach Reinigungsmittel – auf der Intensivstation. Auf einem Bett liegt die Frau, die ich besuche. Reglos. Nach der Operation. Die Ärzte wollten den Tumor beschneiden. Das Böse besiegen. Dem Leid ein Ende setzen.
Es ist schwer in dieser Situation das Leiden Jesu Ernst zu nehmen – so wie es der Hebräerbrief beschreibt. Was hilft sein Leiden, wenn diese Frau nun stirbt? Leiden lernen im Gehorsam – was soll das?
Blick zurück, vielleicht klärt das: Die Gemeinden, an die sich dieser Brief richtete, waren skeptisch geworden. Die erste Begeisterung über das Christusgeschehen – Tod und Auferstehung – war verflogen. Der Alltag hatte sich mit seinen Problemen breit gemacht – auch in der noch jungen Kirche der hebräischen Gemeinden. Das Feuer des Glaubens, der Eifer der ersten Jahre und Jahrzehnte: abgekühlt. Vor Jahren hatte Jesus noch uneingeschränkt in der Mitte ihres Lebens gestanden. In der Freude über sein Evangelium waren ihre Augen nur auf ihn gerichtet. Seinem Weg zum Kreuz bis zur Auferstehung galt ihr uneingeschränktes Interesse. Jahre später die Ernüchterung: Die heile Welt bringt der neue Glaube auch nicht. Das Leiden bleibt.
Darum wählt der Autor krasse Worte. Er schreibt vom lauten Schreien und von den Tränen Jesu. Tiefer geht es nicht. Doch auch das irdische Leiden des gehorsamen Gottesknechtes Jesus hatte ein Ende. Und dann ging es – im wahrsten Sinne des Wortes – aufwärts. Die Stahltür des Todes wurde aufgebrochen. Dahinter eine neue Dimension für die Menschen: Der Vater erhöhte den Sohn oder anders – im Sterben liegt Hoffnung. In unserer heutigen Welt bleibt alles beim Alten. Leid und Krieg, Tränen und Trauer – jeden Tag. Doch der Trost Gottes ist mitten unter uns.
Am Abend vor der Operation bat mich die Frau um etwas: „Taufe mich!“. Als Kind Gottes hat sie reiches Leben mitten im Leiden. Zwei Tage nach der Operation öffnete sie ihre Augen.
Marcus Buchholz