Ohne Zwang und erhobenen Zeigefinger
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Der Text ärgert mich. Seine Pädagogik ist überwunden. Sein Duktus nicht mehr zeitgemäß. Solche Lasterkataloge kann heute niemand mehr ernstnehmen, es sei denn, er oder sie versteht die frohe Botschaft als Drohbotschaft (siehe Vers 5) und ihre Umsetzung als alleinige Leistung des Menschen. Sätze wie diese haben Martin Luther zur Selbstgeißelung geführt und unzählige Menschen unglücklich gemacht, die ihnen vergeblich gerecht werden wollten.
Und vielfach machen sie es leider immer noch. Sie erwecken in ihrer Hell-Dunkel-Metaphorik im schlichten Schwarz-Weiß-Schema den Eindruck, der Mensch könnte jemals in der Lage sein, ein Leben in vollkommener Reinheit und darin frei von lieb- und verantwortungsloser Sexualität (so übersetzte ich heute „Unzucht“), von Habsucht und von unbedachter und verletzender Sprache führen. Das kann ein Mensch nicht, weil er ein begrenztes Wesen ist, das bestenfalls mit Gottes Hilfe erfolgreich um das Gute ringt, dabei das Böse aber nie ganz überwindet. Gott hat seine Liebe in „irdene Gefäße“ (2. Korinther 4,7) gegossen, die brüchig und unvollkommen sind und ein irdisches Leben lang bleiben. Auch wenn sie wohl nicht so gedacht sind, wirken diese Sätze aus dem Epheserbrief moralinsauer und unbarmherzig. In keinem Fall sind sie eine Werbung für ein Leben im Glauben.
Dennoch sind sie als Predigttext für den Sonntag „Okuli“ vorgeschlagen. Was kann man auf ihrer Grundlage sagen? Wo verbirgt sich die frohe Botschaft, wo eine Ermutigung zu einem Leben im Vertrauen auf Gott? Wo und wie finden und sehen meine Augen (Okuli) den Herrn (Psalm 25,15) und nicht seine sich mühende Schöpfung?
Es sind neben Vers 8 letztlich die Verse 1 und 2, in denen ich fündig werde. In diesen wird von Gottes Liebe zu uns gesprochen, die uns in Jesus Christus ganz nahe gekommen ist. Ihre Erfahrung ist die Voraussetzung für eine neue, andere Beziehung zu den Dingen, die unser Leben und unser Verhalten in Wort und Tat bestimmen.
Gottes Liebe vermag uns frei(er) zu machen von unseren Begrenztheiten im Umgang mit etwas Grundlegendem wie Besitz, Sexualität und Sprache. Aber ein Leben unter und in dieser Liebe macht uns noch nicht automatisch in der Lebenspraxis ein für alle Mal zum „Licht in dem Herrn“ (Vers 8), selbst wenn diese Zusage großartig ist und von uns voller Dank angenommen werden kann.
Ich bin der Paränesen (Ermahnungen) leid, die das Christentum für viele Menschen zu einer Zeigefinger-Religion gemacht haben, in der die Menschen sich ständig verheben oder sich über andere erheben lassen. Zugleich ist mir bewusst, dass ich den Menschen nicht aus seiner Verantwortung entlassen kann, das Seine dazu zu tun, damit die Kraft in und unter uns wirken kann, die wir Gottes Liebe nennen.
Was mir hilft: Vertrauen in Gott gewinnen und erhalten ist ein lebenslanger Prozess des Einübens und inneren Wachstums. So ist es auch mit den Früchten dieses Glaubens, die sich in verändertem Verhalten und Bewusstsein zeigen. Und doch: Grundlage allen Tuns ist das tägliche Beten, das Bitten und Zweifeln, das Lesen der Bibel, das Ringen mit Gott um die Erfahrung seiner Nähe und Liebe. Ohne die Erfahrung dieser Liebe ist nichts getan. Wo sie geschieht, bewirkt sie Gutes. Ihr Kennzeichen ist eine wunderbare Freiheit ohne Zwang und Zeigefinger.
Andreas Kühne-Glaser Bild: privat