„Neue Gesichter spiegeln uns“
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Er hat die Wüste durchquert, die Schrecken im zerfallenden Libyen überstanden und das Mittelmeer hinter sich gelassen. Er kann lange Strecken gehen und lange in einem Auto sitzen, ohne sich zu bewegen. Jetzt lebt der Flüchtling aus Eritrea in einer deutschen Stadt. Er erzählt seinen neuen Mitbürgern, was ihm auf seiner Flucht widerfahren ist. Und wie er lernte, zu überleben.
Die Geschichte, die sich in diesen Monaten so oder ähnlich vielhundertfach ereignet, wird an diesem Mittwoch in der evangelischen Göttinger Innenstadtkirche St. Johannis nur gespielt. Die ersten Szenen der Produktion „Eine Stadt verändert “ der freien Theater-Initiative „Boat People Projekt“ haben beim „Aschermittwoch der Künste“ Premiere. Die hannoversche Landeskirche und die evangelische Hanns-Lilje-Stiftung veranstalten den Kulturtag seit 18 Jahren an wechselnden Orten.
„Zuwanderung verändert das städtische Leben, das spüren wir mittlerweile Tag für Tag und hautnah“, sagt Regisseurin Nina de la Chevallerie. Viele Flüchtlinge erlebten die Stadt als neue Bewohner wie einen „labyrinthischen Wartesaal, einen absurden Parcours durch Befragungen, bürokratische Abläufe, fremde Sprache und komplizierte Vorschriften“.
„Der Grenzer schaut durch mich hindurch. Er weiß nicht, dass ich ein Mensch bin. Er weiß nicht, dass er ein Mensch ist.“ Was den Flüchtlingen an den Grenzen und dahinter widerfährt und durch den Kopf geht, hinterlässt nicht nur Spuren bei ihnen selbst. Sondern auch bei denjenigen, die schon länger hier leben.
„Eine Stadt verändert sich“ ist kein Theaterstück mit einer durchgängigen Handlung. Willkommensarchitektur, Sprachführerscheine, Gesetzesschnipsel - Regisseurin Chevallerie und Texterin Luise Rist haben Fakten, Eindrücke und Interviews zusammengetragen, die in scheinbar willkürlicher Anordnung und mit unterschiedlichen Stilmitteln zur Aufführung kommen.
„Wir spannen einen assoziativen und performativen Bilderbogen über ein Zeitalter, in dem wir uns selbst neu kennenlernen müssen“, sagen die beiden Theatermacherinnen. „Neue Gesichter aus Syrien oder dem Kosovo spiegeln uns, wo wir eigentlich stehen“. Ein neues Gesicht gibt es auch im Ensemble. In „Eine Stadt verändert sich“ wirkt neben den schon früher von den „Boat People“ engagierten Profis Franziska Aeschlimann und Dominik Breuer der syrisch-kurdische Schauspieler Rzgar Kalil mit, der seit einigen Monaten in Göttingen lebt.
Das „Boat People Projekt“ entstand 2009. Seitdem hat die Gruppe in knapp einem Dutzend Stücken die Themen Flucht, Zusammenleben und Abgrenzung auf meist ungewöhnliche Bühnen gebracht. Gespielt, getanzt und musiziert wurde schon in aufgegebenen Fabrikgebäuden, in Kirchen und in einem Bus. „Dabei waren es insbesondere Flüchtlinge, deren Geschichten und Perspektiven unsere Stücke inspiriert haben“, erzählt Chevallerie.
Eine dauerhafte finanzielle Förderung erhalten die „Boat People“ dabei nicht, für jedes Vorhaben müssen neue Anträge geschrieben werden. Geld für Projekte kam dabei schon öfter vom niedersächsischen Wissenschaftsministerium, von der Hanns-Lilje-Stiftung und der Stadt Göttingen.