Startseite Archiv Tagesthema vom 09. September 2015

„Zusammen besser leben“ - Teil 4

„Zusammen besser leben“ lautet das Motto des Aktionsprogramms der diesjährigen landesweiten „Woche der Diakonie“. Da der Umgang mit Flüchtlingen derzeit eines der wichtigsten Themen in Kirche und Gesellschaft ist, berichtet die Redaktion der Tagesthemen bis zum Wochenende täglich: Erstversorgung und Aufnahme, Integration auf dem Arbeitsmarkt, Sprache und Schulbildung...

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Die zehnjährige Rawan aus Syrien klickt mit der Maus auf den Startknopf. "Guten Tag. Hier sind wieder Jule und Willi", erklingt die ruhige, langsame Stimme von Alois Brei aus dem Computer. Der 67-jährige pensionierte Lehrer aus der Grafschaft Bentheim betreibt seit Jahren das Online-Lernportal "Hamsterkiste.de". Jetzt hat er dort für Flüchtlingskinder ein neues Lernprogramm entwickelt. Mit Bildern, Audio-Dateien und eigens erstellten Übungen können die Kinder die deutsche Sprache lernen.

Auf die Idee für das Angebot auf seiner Seite kam der Pädagoge durch Rawan und weitere Flüchtlingskinder in seiner Nachbarschaft in Neuenhaus. Vier Mal in der Woche unterrichtet er sie am Esstisch in ihrem neuen Zuhause. "Diesen Unterricht machen zu können, ist ein Geschenk des Himmels, auch wenn der Hintergrund dramatisch ist", sagt der ehemalige Schulleiter.

Die Internetseite "Hamsterkiste" mit Unterrichtsmaterialien für Grundschulkinder programmierte Brei schon vor mehr als zehn Jahren. "Ich wollte von Anfang an Materialien in gedruckter Form und Online zur Verfügung stellen." Am Anfang habe er das auch für seinen eigenen Unterricht genutzt. Mittlerweile haben bundesweit zahlreiche Schulen eine Lizenz für sein Unterrichtsmaterial erworben.

Hamsterkiste 1

Bild: epd-Bild

Jeder könne allerdings auf die Inhalte frei zugreifen, betont Brei. Bis zu 5.000 Menschen aus aller Welt besuchen seine Seite jeden Tag. Rückmeldungen bekommt er von deutschen Schulen und Auswanderern aus dem US-amerikanischen Alabama, dem brasilianischen Rio de Janeiro oder dem afrikanischen Namibia.

Neu auf der Internetseite ist nun die Rubrik "Willkommen in Deutschland". Die Flüchtlingskinder lernen zum Beispiel anhand von Fotos von Alltagsgegenständen wie einer Heizung, seinem alten Holzschreibtisch oder Aufnahmen in einem Klassenzimmer Wort für Wort. Denn zu jedem Bild können sie sich auch die Aussprache anhören. Das Material steht für ehrenamtliche Initiativen kostenlos bereit.

"Ein einfaches Schulbuch vermittelt keine Laute", erläutert Brei die Vorteile seiner Idee. Die Unterrichtseinheiten bestehen neben den Wort-Bild-Reihen aus Übungen für den Sachunterricht, Mathematik, zum Schreiben oder Lesen. Der Basiskurs umfasst 30 Lektionen, mit denen neu ankommende Kinder zwischen acht und 12 Jahren auf die Schule vorbereitet werden.

Brei wünscht sich, dass sich aus seinem Angebot vielleicht Initiativen von Lehrern und Ehrenamtlichen entwickeln. Sie könnten zusammen mit Schulen etwa in internationalen Klassen oder Kleingruppen mit den Kindern üben. "Die Kinder sind oft traumatisiert, sie müssen erst mal Sicherheit gewinnen und nicht direkt in Klassen kommen, wo sie kein Wort verstehen." Zumindest für eine gewisse Zeit brauchten sie einen Schutzraum und Ruhe.

Mit dieser Grundlage werde den Kindern eine ordentliche schulische Karriere erleichtert, ist Brei überzeugt. Die Motivation sei nämlich vorhanden. Seine Schüler müsse er oft bremsen und darauf achten, dass sie neben der Schule auch andere Erfahrungen machten, wie das erste Mal Fahrrad zu fahren. "Die Kinder, die jetzt kommen, wollen lernen und etwas aus ihrem Leben machen. Sie sind ein Geschenk, das unserem Land in den Schoß fällt."

Mit seinen syrischen Nachbarskindern bearbeitet er in den Sommerferien alle Lektionen. Alle Schriftzeichen und Laute sind dabei für seine Schützlinge völlig neu. Rawan tippt Brei schließlich vorsichtig auf die Schulter: "Ich habe eine Frage", sagt sie langsam. Brei ist sichtlich verblüfft: Nie hat er mit seiner Schülerin diese Formulierung geübt. "Das zeigt mir, dass die Methode funktioniert."

Charlotte Morgenthal (epd)
Hamsterkiste 4

Bild: epd-Bild

Halt in der Fremde

Mit dem neuen Schuljahr kommen auch in Niedersachsen immer mehr Flüchtlingskinder in die Schulen. Weil unter ihnen die unterschiedlichsten Glaubensrichtungen vertreten sind, steigt nach Ansicht der evangelischen Schulexpertin Kerstin Gäfgen-Track die Bedeutung des Religionsunterrichts an den Schulen. "Die Religion ist etwas, was die Menschen mitnehmen und was ihnen in der Fremde Halt gibt", sagte die Oberlandeskirchenrätin und Bildungsdezernentin der hannoverschen Landeskirche im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Das spiegele sich in den Schulen wider. "Es ist wichtig, dass die Schule damit umgehen kann."

Sie erhalte zunehmend Anfragen von Lehrern zu den Religionen der neuen Schüler, etwa zum Glauben der orthodoxen Christen aus Syrien oder der Jesiden aus dem Irak, aber auch zu den Muslimen, sagte Gäfgen-Track. Dabei gehe es unter anderem um den Umgang mit verschiedenen Feiertagen und Bräuchen. "Darf man während des Fastenmonats Ramadan Klausuren schreiben?", laute eine dieser Fragen. "Es kann auch Konflikte geben, zum Beispiel wenn Kinder verschiedener Religionen auf dem Schulhof zusammentreffen."

Die Schüler müssten mit ihrem eigenen religiösen Hintergrund vertraut gemacht werden, um sich mit anderen Religionen auseinandersetzen zu können. Das Fach "Werte und Normen" könne das nicht leisten: "Jeder Mensch braucht erst einmal einen kompetenten und kritischen Umgang mit seiner eigenen Religion." Um in Deutschland heimisch zu werden, sei es zudem wichtig, den christlich-jüdischen Einfluss auf die deutsche Kultur zu verstehen, sagte Gäfgen-Track. "Unser Verständnis von den Menschen- und Grundrechten ist davon geprägt."

Gäfgen-Track begrüßte es, dass mittlerweile auch islamische Religion an den Schulen gelehrt wird und ein Studienfach an öffentlichen Hochschulen ist. "Wissenschaftlich fundiert und im Dialog mit anderen Wissenschaften können die Religionen in der globalisierten Welt einen Beitrag zum friedlichen Zusammenleben leisten", sagte sie. Insgesamt habe der Religionsunterricht in Niedersachsen eine anerkannte Stellung, auch wenn einzelne Parteienvertreter oder Gruppierungen ihn kritisch anfragten.

Im vergangenen Jahr standen nach Angaben der Bildungsexpertin in Niedersachsen rund 11.400 Stunden in "Werte und Normen" rund 54.600 Religionsstunden gegenüber. Dabei habe der Unterricht in evangelischer und katholischer Religion den Löwenanteil ausgemacht, sagte Gäfgen-Track. Erst 0,3 Prozent der Stunden seien islamischer Religionsunterricht gewesen. An zwei Schulen im Land werde jüdischer Religionsunterricht erteilt. Wenn immer mehr Kinder mit christlich-orthodoxem Hintergrund ins Land kämen, könnte für sie auch ein orthodoxer Unterricht angeboten werden.

epd