Urlaub von der Katastrophe
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Eben war noch Mittagspause. Überall Ruhe, niemand zu sehen. Plötzlich toben Katja, Sergej, Shanna, Vitali und all die anderen Kinder aus der weißrussischen Gomel-Region mit lautem Johlen über das Gelände des Ferienlagers in der Nähe des niedersächsischen Heidestädtchens Soltau. Hier können sie für vier Wochen mal vergessen, was ansonsten den Alltag ihrer Heimat in knapp 1.500 Kilometern Luftlinie entfernt so dramatisch prägt. Ein Alltag gar nicht weit entfernt vom Katastrophenreaktor im ukrainischen Tschernobyl.
Seit 25 Jahren lädt die hannoversche Landeskirche Kinder aus der verstrahlten Gomel-Region im Südosten Weißrusslands nach Niedersachsen ein. In Begleitung von Dolmetscherinnen können sie und Mütter mit Kleinkindern entspannen und Kraft tanken, gesunde Lebensmittel essen, einfach Urlaub von der Katastrophe nehmen. „Mittlerweile waren mehr als 25.000 Menschen hier, allein in diesem Jahr sind es bis in die letzte Augustwoche etwa 650“, sagt der landeskirchliche Koordinator Lars-Torsten Nolte.
Hilfe mit so langem Atem: Inzwischen kommen schon die Kinder der ersten Tschernobyl-Kinder, die in den 1990er Jahren in Niedersachsen waren. Das geht nur durch die Unterstützung Tausender Gasteltern und ebenso vieler Freiwilliger, zu denen auch Barbara Koll aus Schneverdingen am Rande der Lüneburger Heide seit Anbeginn gehört. „Die Hilfe ist nötiger denn je, weil die Folgen der Reaktorkatastrophe weiterhin massiv spürbar sind“, sagt die 58-Jährige, die die Ferienaktion im evangelischen Kirchenkreis Rotenburg bei Bremen mit Gasteltern und einer Gruppenunterkunft organisiert.
Uljana Motorina (zweite von links) gehört zu den Betreuerinnen, die in diesem Jahr die Ferienaktion der hannoverschen Landeskirche geleitet. Bild: epd-Bild/ Dieter Sell
Vor knapp 30 Jahren, am 26. April 1986, ereignete sich im Block 4 des ukrainischen Atomkraftwerkes Tschernobyl ein Unfall, der radioaktive Stoffe freisetzte, die zu etwa 70 Prozent auf dem Gebiet von Weißrussland niedergingen. Die Zahl angeborener Missbildungen steigt dadurch bis heute, die Quote an Organkrebsen und vor allem Skeletterkrankungen ist unverändert hoch.
Die Langzeitfolgen des radioaktiven Fallouts werden erst nach und nach sichtbar, in mancher Hinsicht sind sie noch gar nicht abzuschätzen. „Die Menschen in den verstrahlten Regionen Weißrusslands werden noch in Jahrzehnten Opfer dieser Katastrophe sein“, prognostiziert Nolte.
„Das Problem ist: Radioaktivität riecht nicht, wir sehen nichts - und die Leute säen ihr Gemüse in den verstrahlten Boden“, erzählt Tamara Anikeeva (60), die auch schon seit 1992 Kinder begleitet und während der Ferienwochen in Niedersachsen als Dolmetscherin übersetzt. Trotzdem lässt sie sich nicht entmutigen, sondern baut zusammen mit Barbara Koll seit Jahrzehnten an Netzwerken, in denen Hilfe organisiert wird - durch Ferienaktionen, Hilfskonvois und Begegnungen.
Zu denen, die zunächst als Kinder gekommen sind und nun als Betreuer mithelfen, gehört Uljana Motorina (19). Sie und viele andere sprechen von der Herzenswärme, die sie in ihren Gastfamilien erfahren haben. „Als Kind wollte ich nicht nach Hause“, erinnert sich die Studentin und lacht: „Deutschland ist meine zweite Heimat geworden.“ Nun hilft sie auf dem „Heidenhof“ bei Soltau, organisiert Geländespiele, startet Bobby-Car-Rennen, sorgt für die wuselige Normalität, die sich Kinder in einem Ferienlager wünschen. Und sie will dabei bleiben, freut sich auf weitere Begegnungen: „Das ist doch längst ein Teil meines Lebens.“
Dieter Sell (epd)Kinder aus der weißrussischen Region Gomel bereiten sich auf dem „Heidenhof“ in der Nähe von Soltau auf ein Geländespiel vor. Bild: epd-Bild/ Dieter Sell
Was zeichnet die Initiative besonders aus?
Nolte: Zum einen, dass es inzwischen eine auf allen Ebenen (Gasteltern, Organisation, Programmgestaltung, Leitungskreis, Vorstand) fast ausschließlich ehrenamtlich durchgeführte Aktion ist, und zum anderen, dass es so viele Vernetzungen und Verbindungen in die örtliche und regionale Gemeinschaft gibt: Vereine, Feuerwehren, Kinder- und Jugendverbände und kirchliche Gruppen beteiligen sich am Aufenthaltsprogramm der Kinder, Einzelhändler stiften Schuhe, vor Ort wird das Geld gesammelt, um den Gästen ein interessantes Programm zu ermöglichen.
Diplom-Sozialwirt Lars-Torsten Nolte,Referent für Kinderhilfe Tschernobyl, im Interview über die Tschernobylhilfe für Kinder in der hannoverschen Landeskirche.
Bild: epd-Bild/ Dieter Sell