Startseite Archiv Tagesthema vom 16. August 2015

Urlaub von der Katastrophe

Die Darstellung der Archivmeldungen wird kontinuierlich verbessert. Sollten Sie Fehler bemerken, kontaktieren Sie uns gerne über support@systeme-e.de

Eben war noch Mittagspause. Überall Ruhe, niemand zu sehen. Plötzlich toben Katja, Sergej, Shanna, Vitali und all die anderen Kinder aus der weißrussischen Gomel-Region mit lautem Johlen über das Gelände des Ferienlagers in der Nähe des niedersächsischen Heidestädtchens Soltau. Hier können sie für vier Wochen mal vergessen, was ansonsten den Alltag ihrer Heimat in knapp 1.500 Kilometern Luftlinie entfernt so dramatisch prägt. Ein Alltag gar nicht weit entfernt vom Katastrophenreaktor im ukrainischen Tschernobyl.

Seit 25 Jahren lädt die hannoversche Landeskirche Kinder aus der verstrahlten Gomel-Region im Südosten Weißrusslands nach Niedersachsen ein. In Begleitung von Dolmetscherinnen können sie und Mütter mit Kleinkindern entspannen und Kraft tanken, gesunde Lebensmittel essen, einfach Urlaub von der Katastrophe nehmen. „Mittlerweile waren mehr als 25.000 Menschen hier, allein in diesem Jahr sind es bis in die letzte Augustwoche etwa 650“, sagt der landeskirchliche Koordinator Lars-Torsten Nolte.

Hilfe mit so langem Atem: Inzwischen kommen schon die Kinder der ersten Tschernobyl-Kinder, die in den 1990er Jahren in Niedersachsen waren. Das geht nur durch die Unterstützung Tausender Gasteltern und ebenso vieler Freiwilliger, zu denen auch Barbara Koll aus Schneverdingen am Rande der Lüneburger Heide seit Anbeginn gehört. „Die Hilfe ist nötiger denn je, weil die Folgen der Reaktorkatastrophe weiterhin massiv spürbar sind“, sagt die 58-Jährige, die die Ferienaktion im evangelischen Kirchenkreis Rotenburg bei Bremen mit Gasteltern und einer Gruppenunterkunft organisiert.

Tschernobyl-1

Uljana Motorina (zweite von links) gehört zu den Betreuerinnen, die in diesem Jahr die Ferienaktion der hannoverschen Landeskirche geleitet. Bild: epd-Bild/ Dieter Sell

Vor knapp 30 Jahren, am 26. April 1986, ereignete sich im Block 4 des ukrainischen Atomkraftwerkes Tschernobyl ein Unfall, der radioaktive Stoffe freisetzte, die zu etwa 70 Prozent auf dem Gebiet von Weißrussland niedergingen. Die Zahl angeborener Missbildungen steigt dadurch bis heute, die Quote an Organkrebsen und vor allem Skeletterkrankungen ist unverändert hoch.

Die Langzeitfolgen des radioaktiven Fallouts werden erst nach und nach sichtbar, in mancher Hinsicht sind sie noch gar nicht abzuschätzen. „Die Menschen in den verstrahlten Regionen Weißrusslands werden noch in Jahrzehnten Opfer dieser Katastrophe sein“, prognostiziert Nolte.

„Das Problem ist: Radioaktivität riecht nicht, wir sehen nichts - und die Leute säen ihr Gemüse in den verstrahlten Boden“, erzählt Tamara Anikeeva (60), die auch schon seit 1992 Kinder begleitet und während der Ferienwochen in Niedersachsen als Dolmetscherin übersetzt. Trotzdem lässt sie sich nicht entmutigen, sondern baut zusammen mit Barbara Koll seit Jahrzehnten an Netzwerken, in denen Hilfe organisiert wird - durch Ferienaktionen, Hilfskonvois und Begegnungen.

Zu denen, die zunächst als Kinder gekommen sind und nun als Betreuer mithelfen, gehört Uljana Motorina (19). Sie und viele andere sprechen von der Herzenswärme, die sie in ihren Gastfamilien erfahren haben. „Als Kind wollte ich nicht nach Hause“, erinnert sich die Studentin und lacht: „Deutschland ist meine zweite Heimat geworden.“ Nun hilft sie auf dem „Heidenhof“ bei Soltau, organisiert Geländespiele, startet Bobby-Car-Rennen, sorgt für die wuselige Normalität, die sich Kinder in einem Ferienlager wünschen. Und sie will dabei bleiben, freut sich auf weitere Begegnungen: „Das ist doch längst ein Teil meines Lebens.“

Dieter Sell (epd)
Tschernobyl 3

Kinder aus der weißrussischen Region Gomel bereiten sich auf dem „Heidenhof“ in der Nähe von Soltau auf ein Geländespiel vor. Bild: epd-Bild/ Dieter Sell

Was zeichnet die Initiative besonders aus?

Nolte: Zum einen, dass es inzwischen eine auf allen Ebenen (Gasteltern, Organisation, Programmgestaltung, Leitungskreis, Vorstand) fast ausschließlich ehrenamtlich durchgeführte Aktion ist, und zum anderen, dass es so viele Vernetzungen und Verbindungen in die örtliche und regionale Gemeinschaft gibt: Vereine, Feuerwehren, Kinder- und Jugendverbände und kirchliche Gruppen beteiligen sich am Aufenthaltsprogramm der Kinder, Einzelhändler stiften Schuhe, vor Ort wird das Geld gesammelt, um den Gästen ein interessantes Programm zu ermöglichen.

Diplom-Sozialwirt Lars-Torsten Nolte,Referent für Kinderhilfe Tschernobyl, im Interview über die Tschernobylhilfe für Kinder in der hannoverschen Landeskirche.

Kinder merken die Herzlichkeit

Auch Jahrzehnte nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl leiden die Menschen in der verstrahlten Region etwa im weißrussischen Gomel noch immer an massiven gesundheitlichen Problemen. „Die Zahl der Krebserkrankungen an der Schilddrüse nimmt aktuell wieder zu, auch die Schäden durch langlebige Nuklide wie Cäsium und Strontium sind besorgniserregend“, sagte der Göttinger Radiologe Professor Heyo Eckel dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Das wird uns mindestens noch für die nächsten 50 Jahre beschäftigen“, prognostizierte der Ehrenpräsident der Ärztekammer Niedersachsen.

Die seit 25 Jahren laufenden Erholungsaufenthalte von Kindern aus der Gomel-Region in Niedersachsen findet Eckel deshalb nach wie vor wichtig und notwendig. Zwar sei ein ärztlich-medizinischer Effekt schwer nachzuweisen. „Aber die Kinder merken die Herzlichkeit und die Gastfreundschaft, der psychologische Effekt ist enorm.“

Am 26. April 1986 ereignete sich im Block 4 des ukrainischen Atomkraftwerkes Tschernobyl ein schwerer Reaktorunfall. Eine radioaktive Wolke verstrahlte ganze Regionen.  22 Prozent der Fläche, auf der etwa ein Fünftel der Einwohnerschaft lebt, wurden langfristig radioaktiv verseucht.

Heute, knapp 30 Jahre später, würden viele Menschen nicht mehr davon reden. „Es ist eine stille Katastrophe, die weiter geht - und die Leute verdrängen das. Das ist vielleicht ein Abwehrmechanismus, ohne den sie gar nicht überleben könnten“, vermutet Eckel, der lange Jahre die niedersächsische Landesstiftung „Kinder von Tschernobyl“ geleitet hat und immer noch dem Vorstand angehört.

Organkrebse und vor allem Skeletterkrankungen seien unverändert hoch, die Zahl angeborener Missbildungen steige, erläuterte der Mediziner. Die Abtreibungsquote sei hoch. Dazu käme oft eine schwierige soziale Situation der Menschen in den verstrahlten Regionen, verbunden mit Alkoholmissbrauch und starkem Rauchen. Überdies seien nach wie vor belastete Lebensmittel auf dem Markt.

Eine Vielzahl weiterer gesundheitlicher Probleme wie etwa Magen-Darm-Beschwerden, generelle Abschlaffung und Konzentrationsmängel erschwere die Situation.

Trotzdem seien die Menschen aber nicht verzweifelt, sondern würden versuchen, gefasst die Probleme in ihr Leben zu integrieren. Eckel spricht in diesem Zusammenhang von einer bewundernswerten „Seelengröße“, begleitet oft von tiefgehenden Freundschaften gerade zu den Deutschen - trotz der NS-Verbrechen in Weißrussland. „Die Menschen dort sagen mir, wir müssen uns daran erinnern, damit das nicht wieder passiert. Aber sie sagen auch, dass das nicht zwischen uns stehen darf.“

epd
h_epd_00337397

Bild: epd-Bild/ Dieter Sell