Startseite Archiv Tagesthema vom 02. August 2015

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Deutsch pauken, die Kinder zum Arzt begleiten, Formulare entziffern, gemeinsam zum Job-Center gehen: Seit einem Jahren unterstützt die Bremerin Kerstin Sommer eine kurdische Flüchtlingsfamilie mit fünf Kindern aus Syrien. „Das begann mal mit einem Kaffeetrinken“, erinnert sich die 52-Jährige. Nun besucht sie die Familie wöchentlich und spricht mit Eltern und Kindern, gelegentlich mit Händen und Füßen, „aber es läuft gut“. Wie Kerstin Sommer engagieren sich in Deutschland Zehntausende Freiwillige in der Flüchtlingsarbeit. Und täglich werden es mehr.

Zwar bestimmen in den Berichten der Medien oft Angriffe auf Übergangswohnheime oder ausländerfeindliche Demonstranten die Nachrichten. Doch gleichzeitig wächst das freiwillige Engagement nirgends so stark wie in der Flüchtlingsarbeit.

„Wir sehen fast täglich neue Initiativen“, beobachtet Birgit Pfeiffer von der Freiwilligenagentur in Bremen. Und Birgit Weber von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freiwilligenagenturen in Berlin urteilt: „Das ist ein tolles Beispiel dafür, dass die Leute einfach anfangen und sich engagieren und nicht auf ein Zeichen von oben warten“. Besonders das Schicksal der Kriegsflüchtlinge aus Syrien bewegt viele.

Vereine und Initiativen haben bei der Flüchtlingsarbeit in den vergangenen drei Jahren einen Engagement-Zuwachs von durchschnittlich 70 Prozent verzeichnet, hat Serhat Karakayali vom Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung berechnet. Zusammen mit dem Refugee Studies Centre der Oxford University hat er kürzlich eine Studie vorgelegt. Ergebnis: In keinem europäischen Land gibt es ein so starkes ehrenamtliches Engagement für Flüchtlinge wie in Deutschland.

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Seit einem Jahr unterstützt die Bremerin Kerstin Sommer (re.) eine kurdische Flüchtlingsfamilie. Bild: epd-Bild/ Dieter Sell

„Ich sehe, dass sich in Deutschland ganz viele Leute auf einer selbstverständlichen und menschlichen Ebene dieser wirklich weltweiten Not zuwenden. Das ist ein Schatz dieser Zivilgesellschaft, den wir gar nicht hoch genug werten können. Wichtig ist mir, dass diese Freiwilligen die Unterstützung bekommen, die sie brauchen, damit sie ihren Enthusiasmus und ihr Engagement durchhalten. Denn die Arbeit beispielsweise mit Menschen, die auf ihrer Flucht Schreckliches erlebt haben, kann belastend sein.“
Diakonie-Präsident Ulrich Lilie

Den Hauptteil der finanziellen Last tragen hier - genauso wie bei Flüchtlings-Unterkünften und gesundheitlicher Versorgung - die Länder. Niedersachsen etwa schult Integrationslotsen, Bayern unterstützt die ehrenamtliche Sprachförderung von Flüchtlingen, Sachsen-Anhalt hat eine Netzwerkstelle „Willkommenskultur“ aufgebaut. Baden-Württemberg gibt Geld für neue Ideen, mit denen Ehrenamtliche Flüchtlinge und Asylsuchende begleiten, immerhin 1,35 Millionen Euro.

Dazu kommen Projekte wie die Internet-Portale der niedersächsischen Aktivistin Birte Vogel oder der Bremer Landeskoordinatorin des zivilgesellschaftlichen Engagements für Flüchtlinge, Lucyna Bogacki. Sie versuchen etwas, was in der gerade explosionsartig wachsenden Szene besonders schwierig ist: ordnen, einen Überblick verschaffen, Hilfesuchende und Hilfsbereite vernetzen. „Ich wollte eine Anlaufstelle für Menschen in ganz Deutschland schaffen, die sich engagieren möchten.“, erläutert Birte Vogel.

Doch Ehrenamtliche wie sie arbeiten am Rande ihrer Kräfte, um die Arbeit zu schaffen. Dazu kommt: Fortbildungen für die Helfer sind schnell ausgebucht, gedruckte Leitfäden bald vergriffen.

Um zu entlasten, kann sich Birgit Pfeiffer von der Bremer Freiwilligenagentur gut vorstellen, dass in Stadtteilen Koordinationsstellen eingerichtet werden. Sie könnten wohnortnah die Bedürfnisse von Flüchtlingsfamilien und die Angebote Freiwilliger zusammenbringen. Auch ein Ombudsmann für die Freiwilligen auf Bundesebene wäre Pfeiffer zufolge wichtig, um der Arbeit mehr Gewicht zu verleihen.

Das würde Geld kosten, aber es wäre gut angelegt, meint sie. Investiere die Politik zu wenig, riskiere sie den „hilflosen Helfer“, der angesichts von Überlastung und mangelnder Orientierung unzufrieden werde: „Das gefährdet das derzeit vorherrschende positive gesellschaftliche Klima. Das ist unsere Sorge.“

Noch einen Schritt weiter in ihrer Freiwilligen-Praxis geht schon jetzt die Kölner Bürgerstiftung „KalkGestalten“, die im Stadtteil Kalk Flüchtlingen und Zuwanderern Ehrenämter vermittelt. „Wir motivieren Menschen, ihre Stärken einzubringen“, beschreibt Projektleiterin Elizaveta Khan. Der Stiftung ist es wichtig, dass sich die Flüchtlinge nicht nur als hilfebedürftige Menschen wahrnehmen, sagt Khan. Sondern als Akteure, die über Fähigkeiten verfügen und ihr Leben in eigener Regie gestalten: „Jeder ist wichtig, der hier ist.“

Dieter Sell (epd)
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Hilfe bei Behördengängen und dem Ausfüllen von Anzrägen. Bild: epd-Bild/ Dieter Sell

Netzwerktreffen

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freiwilligenagenturen lädt Vertreter von Freiwilligenagenturen aus ganz Deutschland am 21. September zu einem ersten Netzwerktreffen in Berlin ein. Dabei soll unter anderem gesichtet werden, welche Initiativen es bei den Agenturen für Flüchtlinge bereits gibt.

Schatz dieser Zivilgesellschaft

Diakonie-Präsident Ulrich Lilie sieht das ehrenamtliche Engagement in der Flüchtlingsarbeit als „Schatz dieser Zivilgesellschaft“. Die Freiwilligen müssten allerdings gut ausgebildet und durch Hauptamtliche unterstützt werden, damit sich die Hilfsbereitschaft nicht erschöpfe, fordert Lilie im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

epd: Was heißt für Sie richtige Unterstützung?

Ulrich Lilie: Da geht es um professionelle Begleitung, um Beratung und Coaching, um Koordination. Da geht es aber auch um Ausbildung, um Grundkenntnisse zum Beispiel des Asylverfahrens. Ich muss schon wissen, wie so ein Verfahren aussieht, ich muss Rechtsmittelfristen kennen. Und ich muss meine eigenen Grenzen kennen. Ich muss wissen, wann es besser ist, Hauptamtliche einzuschalten, beispielsweise aus einem der mehr als 600 Migrationsfachdienste oder Beratungsstellen für Asylsuchende in Kirche und Diakonie.

Die wiederum müssen in ihren Diensten so ausgestattet sein, dass sie für die Begleitung von Ehrenamtlichen wirklich Zeit und auch Mittel haben. Das heißt: Wir müssen Geld für die Unterstützung der Ehrenamtlichen in die Hand nehmen, damit freiwilliges Engagement auf Dauer funktioniert. Ansonsten könnte es passieren, dass sich diese große Hilfsbereitschaft in unserer Bevölkerung auch wieder erschöpft.

epd: Wo sehen Sie Konflikte, die Frust auslösen können?

Lilie: Beispielsweise dort, wo mehr als das allein mitmenschliche Verständnis gefragt ist. Wir wollen ja, dass die Menschen, die zu uns kommen, so selbstbestimmt wie möglich ihre eigenen Perspektiven entwickeln. Das heißt doch: Sie müssen nicht unbedingt das tun, was ich selber plausibel finde. Da kommen eben Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, die vielleicht andere Pläne haben als ich. Meine Aufgabe ist es dann, sie dabei zu unterstützen, dass sie die jeweils richtige Perspektive für sich selbst finden. Das kriegen wir hin - mit dem richtigen Mix zwischen freiwilligem Engagement und professioneller Begleitung. Da ist jeder Euro bestens investiert. Denn wenn das gelingt, bedeutet das schnellere und bessere Integration.

epd