Startseite Archiv Tagesthema vom 30. Juni 2015

Rückkehr bleibt ungewiss

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Die Gesichter der Männer, die sie schlugen, kann Salwa nicht vergessen. „Ich träume von ihnen und sehe sie nachts“, sagt die 18-Jährige, die zur Religionsgemeinschaft der Jesiden gehört. Acht Monate war sie in Gefangenschaft der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS). Nur durch Zufall konnte sie fliehen und zu ihrer Familie kommen, die in einem Flüchtlingscamp in der Nähe des nordirakischen Ortes Sacho lebt.

Das Schreckliche begann vor rund einem Jahr: Salwa ist in einem Auto mit zehn Frauen und Kindern vom irakischen Sindschar vor dem IS auf der Flucht. Plötzlich wird das Fahrzeug gestoppt. IS-Männer nehmen die jüngeren Frauen mit. Mit rund 700 Mädchen sei sie fast zwei Wochen in eine Turnhalle gesperrt worden. „Ich wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war“, berichtet die junge Frau, deren voller Name zu ihrem Schutz nicht genannt wird.

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Rund 600 vor dem Terror der IS-Milizen geflohene Jesiden haben auf einer Baustelle im nordirakischen Sacho seit einem Jahr ihr Zuhause. Bild: epd-Bild/ Charlotte Morgenthal

Salwa trägt Pferdeschwanz, Jeans und eine weiße Bluse. Während sie erzählt, kniet sie auf einem Kissen im etwa sechs Quadratmeter großen Zelt, das ihre Familie bewohnt. Ihre angestrengt sachliche Stimme lässt erahnen, welche Spuren das Erlebte bei ihr hinterlassen hat. Sie habe mehrmals versucht sich umzubringen, sagt Salwa.

Ihre Gefangenschaft ist eine Odyssee. Im nordirakischen Mossul, das die IS-Kämpfer vor rund einem Jahr einnahmen, wird sie mit 70 anderen Mädchen in ein leerstehendes Haus gebracht, in dem Christen gewohnt haben. „Sie haben die Schönen aussortiert und vergewaltigt“, erzählt die junge Frau und wischt sich über die Augen. Dass sie dazugehörte, muss man vermuten. Sprechen kann sie darüber nicht. „Viele haben sich das Leben genommen“, sagt sie über Mädchen, mit denen sie sich angefreundet hatte.

Mit etwa 35 Mädchen wird Salwa weiter verschleppt. Als einige es schaffen zu fliehen, wird sie bestraft. Acht Tage erhält sie weder Wasser noch Essen. Doch schafft sie es, immer wieder Kontakt zu ihrer Familie aufzunehmen. Manchmal habe sie Handys von IS-Männern gestohlen, sagt Salwa. Angst habe dabei kaum eine Rolle gespielt. „Ich war ja eh immer in Gefahr.“

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Flüchtlingscamp bei Sacho im kurdischen Autonomiegebiet im nahe der türkischen Grenze. Bild: epd-Bild/ Charlotte Morgenthal

Nochmals wird Salwa verschleppt, und zwar nach Mossul. Für einen Mann und seine zwei Frauen soll sie Hausarbeit verrichten. Sie schlagen ihr gegenüber einen harten Ton an: „Ich habe nie daran geglaubt, dass ich noch befreit werden würde.“

Vor drei Monaten kommt dann doch eine Chance. Der Mann ist nicht im Haus, und die Frauen schlafen. Salwa zögert nicht lange und flieht. „Ich habe sie ausgetrickst“, sagt sie, und ein kurzes Lächeln huscht über ihr sonst ernstes Gesicht. Über einen Bekannten des Vaters findet sie zu ihrer Familie im rund 100 Kilometer entfernten Camp bei Sacho im kurdischen Autonomiegebiet nahe der türkischen Grenze.

Mehr als 11.000 Menschen leben dort auf engstem Raum: Christen, Muslime, Jesiden. Tagsüber klettern die Temperaturen auf 40 Grad. Es fehlt an Ventilatoren, Kühlschränken, Toiletten und Waschräumen. Salwa erhält ein wenig psychologische Hilfe, um das Erlebte zu verarbeiten.

Am liebsten möchte die junge Frau möglichst weit weg von ihrer Heimat. Sie hat zwei Brüder, die in Deutschland leben. Und sie hofft darauf, dass sie über ein Sonderprogramm leichter nach Deutschland kann: Baden-Württemberg nimmt in einem Sonderkontingent 1.000 sexuell misshandelte Frauen auf. „Hier kann ich nicht frei meine Meinung sagen“, sagt Salwa und wirkt dabei sehr müde. „Mein Leben ist zerstört.“

Charlotte Morgenthal (epd)
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Charlotte Morgenthal (rechts) mit einer Schülerin aus dem Flüchtlingslager. Bild: privat

„Man sollte sich immer an Hilfsorganisationen wenden, wenn man helfen möchte. Gerade die Organisationen die im Land sind haben einen sehr viel besseren Überblick: Wo wird Hilfe benötig? Es bringt wenig, wenn man eine Eigeninitiative startet. Das ist dann wie ein Tropfen Wasser auf dem heißen Stein. Das wird wenig Erfolg haben.“
Charlotte Morgenthal

Im Sommer 2014 begannen die IS-Milizen mit der brutalen Vertreibung der Jesiden. In den nordirakischen Kurdengebieten fanden viele von ihnen Zuflucht. Sie leben bis heute in Rohbauten, Zelten, Garagen. Hoffnung auf eine Rückkehr haben sie nicht.

Lokale Hilfsorganisationen, teils unterstützt von Caritas International und Diakonie Katastrophenhilfe, versorgen die Vertriebenen außerhalb der Camps mit dem Nötigsten. Rund 160.000 Menschen erreichen sie mit den Initiativen vor Ort. Einmal im Monat werden Gutscheine verteilt. Damit können die Menschen Essen kaufen. Demnächst soll es auch Bargeld für Medikamente, Babynahrung oder Windeln geben. Im Winter bringen die Helfer Kerosin für Heizöfen.

Vergessene Katastrophe

Nur 100 Kilometer entfernt liegt die vom IS-besetzte Stadt Mosul. Der IS ist nah, aber für viele Flüchtlinge in sicherer Distanz. Vier Tage bin ich durch die autonome Region Kurdistan im Nodirak gereist. Eine Region etwa so groß wie Niedersachsen. Ich habe mir unterschiedliche Hilfsprojekte der Diakonie Katastrophenhilfe und Caritas International angeschaut. Sie arbeiten mit lokalen Hilfsorganisationen zusammen, um die Flüchtlinge außerhalb der Camps zu betreuen.

Mit einigen der insgesamt drei Millionen Inlandsvertriebenen und der 250.000 syrischen Flüchtlinge habe ich gesprochen. Viele haben noch die Gräuel der IS vor Augen und haben Familienangehörige verloren. Die Flüchtlinge leben bei derzeit über 40 Grad in behelfsmäßigen Unterkünften. Die meisten finden keine Arbeit, die Kinder können nicht zur Schule gehen. Von den Organisationen bekommen sie Nahrungsmittel oder Geld für den Lebensunterhalt und Kerosin für Öfen. Doch die Spendengelder gehen zurück. Die Katastrophe scheint mehr und mehr in Vergessenheit zu geraten

Hoffnung machen Gemeindezentren, die von den Partnerorganisationen an manchen Orten aufgebaut werden. Dort lernen die Jüngeren Englisch und sie lernen teilweise erstmals Gemeinsamkeiten untereinander kennen und lernen, sich darüber zu unterhalten: Jesiden, Christen und Muslime. Dort haben die Menschen begriffen, dass sie so schnell nicht zurück können. Per Facebook und Whats-App bekommen sie fast täglich Bilder ihrer zerstörten Heimat und Nachrichten, dass noch immer Kämpfer in ihren Dörfern sind.

Am Eindrücklichsten in Erinnerung sind mir die Kinder geblieben. Die Blicke leer und ernst. Nur die wenigsten können ihren Alltag vergessen und zur Schule gehen. Ihre Zukunft ist ungewiss.

epd-Redakteurin Charlotte Morgenthal über ihre Erlebnisse im Nordirak
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Kinder leben in Rohbauten, Zelten, Garagen. Bild: epd-Bild/ Charlotte Morgenthal

Spenden und helfen

Diakonie Katastrophenhilfe

Konto 502 502 // BLZ: 520 604 10
Evangelische Bank
IBAN: DE68520604100000502502
BIC: GENODEF1EK1

Haushaltspakete für zwei Flüchtlingsfamilien kosten 112 Euro. Sie enthalten Kissen und Decken, aber auch Geschirr und Besteck.