Rückkehr bleibt ungewiss
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Die Gesichter der Männer, die sie schlugen, kann Salwa nicht vergessen. „Ich träume von ihnen und sehe sie nachts“, sagt die 18-Jährige, die zur Religionsgemeinschaft der Jesiden gehört. Acht Monate war sie in Gefangenschaft der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS). Nur durch Zufall konnte sie fliehen und zu ihrer Familie kommen, die in einem Flüchtlingscamp in der Nähe des nordirakischen Ortes Sacho lebt.
Das Schreckliche begann vor rund einem Jahr: Salwa ist in einem Auto mit zehn Frauen und Kindern vom irakischen Sindschar vor dem IS auf der Flucht. Plötzlich wird das Fahrzeug gestoppt. IS-Männer nehmen die jüngeren Frauen mit. Mit rund 700 Mädchen sei sie fast zwei Wochen in eine Turnhalle gesperrt worden. „Ich wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war“, berichtet die junge Frau, deren voller Name zu ihrem Schutz nicht genannt wird.
Rund 600 vor dem Terror der IS-Milizen geflohene Jesiden haben auf einer Baustelle im nordirakischen Sacho seit einem Jahr ihr Zuhause. Bild: epd-Bild/ Charlotte Morgenthal
Salwa trägt Pferdeschwanz, Jeans und eine weiße Bluse. Während sie erzählt, kniet sie auf einem Kissen im etwa sechs Quadratmeter großen Zelt, das ihre Familie bewohnt. Ihre angestrengt sachliche Stimme lässt erahnen, welche Spuren das Erlebte bei ihr hinterlassen hat. Sie habe mehrmals versucht sich umzubringen, sagt Salwa.
Ihre Gefangenschaft ist eine Odyssee. Im nordirakischen Mossul, das die IS-Kämpfer vor rund einem Jahr einnahmen, wird sie mit 70 anderen Mädchen in ein leerstehendes Haus gebracht, in dem Christen gewohnt haben. „Sie haben die Schönen aussortiert und vergewaltigt“, erzählt die junge Frau und wischt sich über die Augen. Dass sie dazugehörte, muss man vermuten. Sprechen kann sie darüber nicht. „Viele haben sich das Leben genommen“, sagt sie über Mädchen, mit denen sie sich angefreundet hatte.
Mit etwa 35 Mädchen wird Salwa weiter verschleppt. Als einige es schaffen zu fliehen, wird sie bestraft. Acht Tage erhält sie weder Wasser noch Essen. Doch schafft sie es, immer wieder Kontakt zu ihrer Familie aufzunehmen. Manchmal habe sie Handys von IS-Männern gestohlen, sagt Salwa. Angst habe dabei kaum eine Rolle gespielt. „Ich war ja eh immer in Gefahr.“
Flüchtlingscamp bei Sacho im kurdischen Autonomiegebiet im nahe der türkischen Grenze. Bild: epd-Bild/ Charlotte Morgenthal
Nochmals wird Salwa verschleppt, und zwar nach Mossul. Für einen Mann und seine zwei Frauen soll sie Hausarbeit verrichten. Sie schlagen ihr gegenüber einen harten Ton an: „Ich habe nie daran geglaubt, dass ich noch befreit werden würde.“
Vor drei Monaten kommt dann doch eine Chance. Der Mann ist nicht im Haus, und die Frauen schlafen. Salwa zögert nicht lange und flieht. „Ich habe sie ausgetrickst“, sagt sie, und ein kurzes Lächeln huscht über ihr sonst ernstes Gesicht. Über einen Bekannten des Vaters findet sie zu ihrer Familie im rund 100 Kilometer entfernten Camp bei Sacho im kurdischen Autonomiegebiet nahe der türkischen Grenze.
Mehr als 11.000 Menschen leben dort auf engstem Raum: Christen, Muslime, Jesiden. Tagsüber klettern die Temperaturen auf 40 Grad. Es fehlt an Ventilatoren, Kühlschränken, Toiletten und Waschräumen. Salwa erhält ein wenig psychologische Hilfe, um das Erlebte zu verarbeiten.
Am liebsten möchte die junge Frau möglichst weit weg von ihrer Heimat. Sie hat zwei Brüder, die in Deutschland leben. Und sie hofft darauf, dass sie über ein Sonderprogramm leichter nach Deutschland kann: Baden-Württemberg nimmt in einem Sonderkontingent 1.000 sexuell misshandelte Frauen auf. „Hier kann ich nicht frei meine Meinung sagen“, sagt Salwa und wirkt dabei sehr müde. „Mein Leben ist zerstört.“
Charlotte Morgenthal (epd)Charlotte Morgenthal (rechts) mit einer Schülerin aus dem Flüchtlingslager. Bild: privat
Im Sommer 2014 begannen die IS-Milizen mit der brutalen Vertreibung der Jesiden. In den nordirakischen Kurdengebieten fanden viele von ihnen Zuflucht. Sie leben bis heute in Rohbauten, Zelten, Garagen. Hoffnung auf eine Rückkehr haben sie nicht.
Lokale Hilfsorganisationen, teils unterstützt von Caritas International und Diakonie Katastrophenhilfe, versorgen die Vertriebenen außerhalb der Camps mit dem Nötigsten. Rund 160.000 Menschen erreichen sie mit den Initiativen vor Ort. Einmal im Monat werden Gutscheine verteilt. Damit können die Menschen Essen kaufen. Demnächst soll es auch Bargeld für Medikamente, Babynahrung oder Windeln geben. Im Winter bringen die Helfer Kerosin für Heizöfen.
Kinder leben in Rohbauten, Zelten, Garagen. Bild: epd-Bild/ Charlotte Morgenthal