„Mama, bist du es?“
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Sie heißt Karin oder Marion oder Jutta. Immer noch tut es ihr weh, wenn sie an damals denkt. Angefangen hatte alles wie im Märchen. Als Jugendliche hatten sie sich beim Tanzen verliebt und nicht lange gefackelt. Mit 19 waren sie schon verheiratet. Sie wohnten bei ihren Eltern, das Haus war schließlich groß genug. Sie konnten sich einfach nicht vorstellen, dass es schief gehen würde. Nur fünf Jahre waren sie verheiratet, bis sie sich in einen anderen Mann verliebte. Die Entscheidung gegen den eigenen Mann und für einen neuen zerbrach ihr fast das Herz. Hätte sie mehr kämpfen sollen? Hätte es sich wieder eingerenkt?
Sie heißt Hertha oder Irma oder Edith. Im Garten des Pflegeheims ruht sie sich auf dem Sitz ihres Rollators aus. Wie die Rosen blühen! Wie der Sommer duftet! Wie damals in ihrem Garten zuhause. Immer noch tut es ihr weh, wenn sie an jene Zeit denkt. Sie war damals wie vor den Kopf gestoßen. Ihre einzige Tochter ließ sich scheiden! Sie verließ ihren Mann für einen anderen. Das hätte sie ihr nie zugetraut. Sie konnte immer nur daran denken, was die Nachbarn sagen würden oder die Menschen in ihrer Kirchengemeinde. Sie hatte einfach keinen anderen Ausweg gesehen. Sie brach mit ihrer Tochter und setzte sie vor die Tür. Sie sagte ihr ins Gesicht: „Du bist nicht mehr mein Kind!“ Als sie weg war, wurde es ganz still im Haus.
Seitdem haben Mutter und Tochter nicht mehr miteinander gesprochen. Über 35 Jahre ist das jetzt her. Auch ihre Enkel hat sie nie kennen gelernt. Oft greift sie zum Telefonhörer und möchte sie anrufen. Im letzten Moment traut sie sich dann doch nicht. Was soll sie auch sagen? Oft sitzt sie da im Garten auf ihrem Rollator und sucht nach den richtigen Worten, doch sie fallen ihr einfach nicht ein.
Sie heißen Frau Schmidt oder Herr Maier oder so wie ich und haben ihr Urteil längst gefällt. Wir werden zu Richtern über Ehepaare, die sich trennen. Wir richten über Eltern, die sich von ihren Kindern abwenden. Wir richten über Menschen, die andere verurteilen. Wir meinen zu wissen, was die vermeintlich richtige Entscheidung gewesen wäre, was richtig und was falsch, wer gut und wer böse ist. Oft bemerke ich gar nicht, dass ich selbst es bin, die andere verurteilt. Ich selbst bin es, die unbarmherzig ist und die nicht vergeben kann.
„Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.“ Das fällt leichter, wenn es um gekränkte Eitelkeiten geht oder entlarvten Stolz. Das wird zur Lebensaufgabe, wenn es mein Innerstes bewegt. Es scheint unmöglich, wenn ich in meinem Herzen verletzt bin. Gott sei Dank haben wir einen anderen Richter. Gott selbst ist es, der richtet. Er ist barmherzig und vergibt. Er kennt unser Innerstes und heilt unsere Verletzungen.
Irgendwann war es soweit. Sie fasste sich ein Herz und griff zum Telefonhörer. Die Nummer kannte sie längst auswendig. Als sie am anderen Ende der Leitung die Stimme ihrer Tochter hörte, begann sie zu weinen. Kein Wort brachte sie heraus. Sie hörte nur den einen Satz: „Mama, bist du’s?“
Damaris GrimmsmannBild: Jens Schulze
Damaris Grimmsmann Bild: privat