„Dann bin ich ganz für Sven da“
Die Darstellung der Archivmeldungen wird kontinuierlich verbessert. Sollten Sie Fehler bemerken, kontaktieren Sie uns gerne über support@systeme-e.de
Sven liebt lange Spaziergänge durch das Dorf - an Lisa Overmeyers Hand. Dass der Neunjährige unheilbar krank ist, merkt man ihm nicht an. Am Feuerwehrhaus reißt er sich los, rüttelt an den Türen. „Sirene“, ruft er. Lisa Overmeyer kommt kaum hinterher. „Hey Sven, warte,“ ruft sie und holt ihn ein. Beide lachen. Sie wandern zum Friedhof, zur Kirche, zum Bahnhof, zum Bäcker, mal im Laufschritt, mal singend und immer alle Türen testend. „Wenn ich hier bin, dann bin ich ganz für Sven da,“ sagt Overmeyer.
Die 29-Jährige fährt einmal pro Woche zu Familie Siemeister nach Kattenvenne, einem Dorf zwischen Osnabrück und Münster. Lisa Overmeyer ist eine von bundesweit mehr als 5.000 Ehrenamtlichen in der Kinderhospizarbeit. 90 Prozent sind Frauen. Geschult, vermittelt und begleitet werden sie von rund 150 ambulanten Kinderhospizdiensten. Sie betreuen Kinder, die wie Sven und sein elfjähriger Bruder Erik unter einer lebensbegrenzenden Erkrankung leiden. Denn auch der ältere Sohn der Siemeisters ist krank.
Während Lisa mit Sven durchs Dorf zieht, können sich die Eltern Bernard und Anke Siemeister Erik widmen. Er hat dieselbe Krankheit wie Sven: eine genetisch bedingte Stoffwechselstörung, MPS (Mukopolysaccharidose) Typ III. Sie bewirkt zunächst eine starke Hyperaktivität. Mit der Zeit wird sie den Jungen alle körperlichen und geistigen Fähigkeiten nehmen und ihr Leben deutlich verkürzen.
Sven kann noch prima rennen und springen, aber sprechen und Sprache verstehen, das fällt ihm seit einem halben Jahr schwer. Sein älterer Bruder ist schon nicht mehr so beweglich und hat mehr Schwierigkeiten mit der sprachlichen Kommunikation.
Erik mag gerne Kekse. Er kommt ins Wohnzimmer, nimmt sich einen, setzt sich, steht wieder auf, läuft zur Tür, macht kehrt. Dann schlingt er die Arme um den Hals seiner Mutter, schmust mir ihr, vergräbt seine Nase in ihren Haaren.
Auch Erik hat „seine“ Kinderhospizbegleiterin. Karin Nordmann geht einmal pro Woche mit ihm, Sven und dem Vater zum Reiterhof. Die beiden Jungs sitzen dann auf ihren Ponys: „Und ich halte die ganze Zeit Eriks Hand und rede mit ihm“, sagt die 65-Jährige. Heute macht sie mit Erik ein Puzzle, das liebt er. Leise flüstert sie ihm ins Ohr. Aufrecht sitzt der Junge da, plötzlich wird er ganz ruhig und ein Lachen breitet sich auf seinem Gesicht aus.
Für die Eltern sind Lisa und Karin ein Geschenk: „Sie schenken uns Zeit, die wir im Alltag nicht haben",“ sagt Bernard Siemeister. „Sie kommen, kümmern sich um unsere Kinder und fahren danach wieder", ergänzt seine Frau Anke, „und wir müssen uns keine Gedanken über eine Gegenleistung machen.“
Kinderhospizarbeit gibt es seit genau 25 Jahren, berichtet Marcel Globisch vom Deutschen Kinderhospizverein in Olpe. Der Verein feiert das Jubiläum am 10. Februar, dem Tag der Kinderhospizarbeit. Die ersten ambulanten Dienste begannen 2004 mit ihrer Arbeit. Den Einsatz in den Familien leisten fast ausschließlich qualifizierte Ehrenamtliche. „Diese Form der Unterstützung von belasteten Familien ist ein echtes Erfolgsmodell,“ urteilt Sven Jennessen, der sich als Professor der Universität Koblenz seit Jahren mit dem Thema beschäftigt.
Kinderhospizbegleiterinnen wie Karin Nordmann und Lisa Overmeyer betreuen aber nicht nur die kranken, oft schwer behinderten Kinder. Sie spielen auch mit gesunden Geschwisterkindern und haben ein offenes Ohr für Gespräche mit den Eltern - „je nachdem, was die Familie gerade braucht und was der ambulante Dienst mit beiden vereinbart hat,“ sagt Tanja Wille, Koordinatorin des Dienstes in Osnabrück.
Wenn Erik und Sven mal vom Spielen müde sind, nutzen auch die Siemeisters die Chance, sich mit „ihren“ Begleiterinnen auszutauschen. Ansonsten ist ihr Alltag minutiös durchstrukturiert. Sie arbeiten beide nur vormittags. Bevor die Jungen am Nachmittag von der Förderschule nach Hause kommen, erledigen Anke und Bernard noch den Haushalt: „Danach sind wir ganz für unsere Söhne da.“
Und die fordern in ihrer Wildheit ihre ganze Aufmerksamkeit. Gemeinsam einkaufen, mal essen gehen, Ausflüge machen, entspannt in den Urlaub fahren - das alles ist für die Siemeisters mit Stress und Aufregung verbunden. „Also lassen wir es meistens oder schränken uns ein - suchen abgelegene Ferienhäuser, leere Züge und ruhige Cafés.“
Lisa Overmeyer kommt seit fast anderthalb Jahren zu Familie Siemeister. Sie ist schon ganz gut vertraut mit Svens Eigenheiten. Er ist in der hyperaktiven Phase: unruhig, wild und unberechenbar. „Da räumt er beim Bäcker auch schon mal mit einer Armbewegung ein ganzes Regal ab,“ sagt Lisa und zuckt lächelnd mit den Schultern: „Na und? Sven ist fast immer fröhlich. Ich fahre gerne hin und nachher ganz zufrieden wieder nach Hause. Das ist eine große Bereicherung für mein Leben.“
Martina Schwager, epd