65 Jahre lang geschwiegen
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Pnina Katsir ist kaum fertig mit ihrem Jiddisch-Unterricht, schon geht‘s weiter zum Chi Gong. In zwei Monaten wird sie 85, doch das Alter ist ihr nicht anzusehen. „Dass ich noch so rege bin, habe ich Amcha zu verdanken“, sagt sie lebhaft. Amcha, zu deutsch „dein Volk“, war einst ein Codewort, mit dem sich Holocaustüberlebende nach dem Zweiten Krieg in Europa gegenseitig zu erkennen gaben. Heute heißen so auch die 14 israelischen Anlaufstellen für Überlebende, die hier Hilfe zur Selbsthilfe erfahren, psychologisch unterstützt werden oder einfach „Menschen treffen, denen ich nichts erklären muss“, wie Katsir sagt.
Zum 70. Mal jährt sich heute, am 27. Januar, die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Mit der schrumpfenden Zahl der Überlebenden sollte auch Amcha seine Aufgabe bald erfüllt haben, denkt man. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Zahl der in Israel lebenden Holocaustüberlebenden stieg 2014 von 180 000 auf 193 000. Denn die Behörden zählen heute auch Juden aus Libyen zu den anerkannten Holocaustüberleben, sowie alle Verfolgten, die im Krieg unter den Nazis litten.
Zu Amcha kommen immer mehr Menschen, die damals noch Kinder waren. „Früher haben viele von ihnen sich nicht als Holocaustüberlebende empfunden“, erklärt Martin Auerbach, klinischer Direktor von Amcha Israel. Viele, die selbst nicht im KZ waren, „hatten dennoch sehr prägende Erlebnisse“.
Die Holocaustüberlebende Pnina Katsir brach ihr Schweigen. Bild: epd-Bild
Pnina Katsir war gerade elf Jahre alt, als die Transporte aus Rumänien Richtung Ukraine starteten. Fast vier Jahre lebte sie mit ihren Geschwistern, Eltern und der Großmutter im Ghetto. „Sie ließen uns auf natürliche Weise sterben“, sagt sie lakonisch. Typhus und andere Krankheiten, Hunger und Kälte rissen viele in den Tod. „Es gab Winter mit minus 45 Grad. Wir lebten in Häusern ohne Fenster und Türen.“
Was die neunköpfige Familie überleben ließ, „war die Zuversicht meiner Mutter, dass eines Tages wieder bessere Zeiten kommen werden“. Pnina und ihre Geschwister tauschten, was sie noch hatten, gegen Kartoffelschalen oder Brot. Gegen Ende des Krieges blieb ihnen nur ein Teppich, mit dem sich die Familie nachts zudeckte.
65 Jahre lang erzählt Pnina Katsir von all dem nichts. Niemandem. „Als ich nach Israel kam, wollte ich neu anfangen.“ Die Kinder, selbst die besten Freunde hätten nichts geahnt. Erst später habe sie gemerkt, „wieviel Energie ich all die Jahre verschwendet habe, um zu verdrängen“. Als sie zu Amcha kam, musste sie sich wieder an ihre Kriegs-Erlebnisse erinnern. Anfangs sei ihr das sehr schwer gefallen, doch inzwischen wird sie zu Veranstaltungen eingeladen, um zu berichten. „Einmal habe ich vor 600 Soldaten gesprochen“, sagt sie stolz. „Manchmal staune ich über mich selbst.“
Der Schritt in die Rente oder der Verlust eines geliebten Menschen gebe für viele den Anstoß, weiß Psychologe Auerbach. Im Alter fingen manche auch an zu grübeln, was ohne die Shoa aus ihrem Leben geworden wäre. Viele quäle zudem die Frage, wozu sie überlebt haben. Ganz wichtig sei für die Überlebenden, mit ihrem Leid anerkannt zu werden, sagt Auerbach, der selbst der Sohn von Holocaustüberlebenden ist. „Können andere Menschen verstehen, wie sie sich fühlen?“, fragt er und gibt selbst die Antwort: „Wahrscheinlich nicht, aber es ist schon gut, wenn es jemand versucht.“
Susanne Knaul, Evangelische ZeitungKerzen für die Opfer im Holocaust-Museum des ehemaligen Konzentrationslagers-Auschwitz, Polen. Bild: epd-Bild/ eastway.de
Keine Ortsangabe formuliert den Schrecken über die Bosheit des Menschen so wie der Name Auschwitz. Auschwitz ist ein Symbol der unvorstellbaren Grausamkeit und zugleich ein Wort, das die Sprache verschlägt: „...das Ereignis muß mitgeteilt werden, und zugleich ist es nicht mitteilbar“ sagt ein jüdischer Religionsphilosoph.
Ich habe im vergangenen Jahr mit meinen Kindern, 14 und 15 Jahre alt, Auschwitz besucht. Sie wussten, was man weiß in dieser Generation durch Schulbildung, Film und Fernsehen. Es war ein Sommertag mit dunklen Wolken am Horizont, als wir früh über das ehemalige Lagergelände Auschwitz-Birkenau gingen. Während wir zu Beginn noch redeten, wurden wir still, als wir an den Gleisen entlang zu den Ruinen der Gaskammern gingen.
Ein schweigender Gang über einen großen Friedhof.
Ein schweigender Gang über ein Schlachtfeld von menschlicher Grausamkeit.
Ein schweigender Gang über einen Ort, an dem Humanität, Lebenswille und Glaubenstreue des jüdischen Volkes gegenwärtig bleiben.
Als wir nach zwei Stunden zurück zum Parkplatz kehrten, brach ein schweres Gewitter herein. Wir flüchteten in das moderne Kaffee, welches wenige Wochen zuvor eröffnet hatte. Aluminiumstühle und Cafe Latte wirkten mit dem alltäglichen Service so völlig deplatziert an diesem Ort. Draußen schwemmte der Regen über die Straßen und Wiesen und verhängte in tiefem grau den Himmel. Reisegruppen flüchteten in ihre Busse. Wir saßen und wussten nichts zu reden...
Auszug aus dem Grußwort aus Anlass des Gedenkens an die Befreiung des Konzentrationslager Auschwitz, am 24. Januar 2015 in der Marktkirche HannoverLandesbischof Ralf Meister predigt. Bild: Jens Schulze