Erinnerung wachhalten
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Carola Rudnick ist auf der Suche. Seit zwei Jahren. 70 Mal ist sie schon fündig geworden. Und sie wird es immer wieder sein. Denn Carola Rudnick sucht weiter. Die Historikerin erforscht Biografien von Opfern der sogenannten Kinderfachabteilung während des Zweiten Weltkriegs in Lüneburg.
Die Angehörigen wissen oft bis heute nicht, was mit den Kindern und Jugendlichen aus ihrer Familie wirklich passiert ist, nachdem Ärzte sie in die Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen haben. Die Eltern dachten, ihren Kindern würde dort geholfen und sie würden gesund.
Kinderfachabteilungen waren Tötungsstätten für junge Patienten mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen. Wer als unheilbar galt, dessen Lebenswert lag nach den menschenverachtenden Regeln der sogenannten Rassenhygiene der Nazis darin, nach dem Tod für Forschungszwecke genutzt zu werden: zum Beispiel zu Erbkrankheiten.
„Opfer der NS-Psychiatrie“ heißt das Projekt, das die Lüneburger Wissenschaftlerin Carola Rudnick seit zwei Jahren leitet. Jetzt hat sich ein neuer Trägerverein gegründet, der die Arbeit der Bildungs- und Gedenkstätte sichern und erweitern will. Auch der Kirchenkreis Lüneburg gehört zu den Gründungsmitgliedern des Vereins Euthanasie-Gedenkstätte. Superintendentin Christine Schmid ist es wichtig, dass die pädagogische Arbeit der Gedenkstätte fortgesetzt wird. „Das Gedenken an die Opfer der Euthanasie ist unverzichtbar, um ihnen einen Teil der genommenen Würde zurückzugeben. Die Gräuel der Euthanasie dürfen nicht vergessen werden, um unsere Gewissen zu schärfen und die ethische Urteilsbildung der nächsten Generation mit zu formen.“
Außerdem biete die Einbeziehung von noch lebenden Angehörigen der Opfer eine große Chance, sagt Schmid: „Trauerarbeit, die oft gar nicht möglich war, wird behutsam begleitet. Und durch die Angehörigen kann ein Brückenschlag in die Gesellschaft erfolgen.“
Zwölf Biografien von Kindern und Jugendlichen aus der sogenannten Kinderfachabteilung hat Carola Rudnick bereits erforscht, teils mit der Unterstützung von Pflegeschülern. 70 Angehörige der Opfer hat sie bereits gefunden und mit ihnen Interviews geführt, sie nach Lüneburg eingeladen, mit ihnen und vielen anderen öffentlich der Opfer gedacht. Sie hat einen Ort des Gedenkens auf dem Friedhof mit den überbetteten Kindergräbern mit auf den Weg gebracht und eine Ausstellung konzipiert.
Anders als viele Kollegen an ähnlichen Einrichtungen hat sich die promovierte Historikerin entschieden, die Namen der Opfer öffentlich zu machen und über die Medien nach Angehörigen zu suchen. „Häufig werden die Opfer leider noch anonymisiert, obwohl alle wissen, dass das, was in Akten steht, oft gefälscht und gelogen ist“, sagt Rudnick. „Mit der Nichtnennung der Namen aber vergibt man sich selbst die Chance, Familien zu finden, die manches richtig stellen könnten. Durch die Anonymisierung schützt man aber keine Opfer und Angehörigen, sondern man schließt sie vollständig aus. Man nimmt ihnen die öffentliche Anerkennung als Opfer von Verfolgung und Gewalt, man stigmatisiert sie.“
Und ihre Arbeit wirkt. Immer wieder liegen frische Gestecke am Gedenkstein auf dem Friedhof Nordwest in Lüneburg, immer wieder erreichen sie E-Mails oder Anrufe von Menschen, die etwas gehört oder gesehen haben von einem Forschungsprojekt in Lüneburg, das vielleicht etwas mit ihrer Familiengeschichte zu tun haben könnte.
Carolin George, Evangelische Zeitung