Präses: «Raus aus der Bubble» - Anna-Nicole Heinrich im epd-Gespräch
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Raus aus den Mauern, rein ins Leben - das ist die Grundüberzeugung der neuen Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Anna-Nicole Heinrich, die am 16. August seit 100 Tagen im Amt ist. Die 25-Jährige will im August und September auf Erkundungstour durch Deutschland gehen und mit fremden Menschen ins Gespräch kommen. Warum die evangelische Kirche kein Verein für Bildungsbürger ist und warum sie lieber zuhört als Antworten gibt, erzählt die Philosophie-Studentin im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Frau Heinrich, Sie sind bald 100 Tage im Amt. Wie lautet Ihr Fazit?
Anna-Nicole Heinrich: Die ersten 100 Tage waren sehr spannend. Ich
habe viel Neues entdeckt und konnte mich in die wichtigsten Felder einarbeiten. Vor allem habe ich aber viele Menschen getroffen, die
ich vorher nicht kannte. Das war sehr bereichernd, und jetzt bin ich
weiter neugierig auf das was kommt. Jedenfalls bin ich alles andere
als amtsmüde.
Die evangelische Kirche wird von außen häufig als exklusiver Verein für alte Männer, Akademiker und vielleicht noch ein paar Studierende wahrgenommen. Welche Strategien haben Sie, um die Kirche
wieder zugänglicher zu machen?
Heinrich: Das Bild trifft es nicht. An vielen Stellen wirkt die
Kirche möglicherweise so exklusiv, weil die Repräsentant:innen und
die Menschen, die in den kirchlichen Gremien sitzen, häufig zu diesen
Personengruppen gehören: Akademiker:innen, Bildungsbürgertum. Aber
mit unseren Angeboten erreichen wir in der Fläche sehr viele
unterschiedliche Menschen. Was unsere Kirche wirklich ausmacht, ist
aber das, was in den Kirchengemeinden und im diakonischen Kontext
passiert - beispielsweise in der Jugendhilfe. Das in der Breite mehr
wahrzunehmen, täte uns gut. Davon habe ich in den ersten 100 Tagen
viel Ermutigendes mitbekommen.
Zum Beispiel?
Heinrich: Eine eindrückliche Begegnung war in einer Kirche in der
Nähe des Tempelhofer Felds in Berlin. Ich war dort abends mit einem
Freund verabredet. Ich konnte sehen, dass vor der Kirche gerade
irgendetwas gefeiert wurde. Die ganze Szene hat mich angesprochen.
Dann kam jemand zu mir, der mich erkannt hat, und ich habe eine
Führung durch die Kirche erhalten. Die Gemeinde hat alle Bänke aus
der Kirche geräumt, einen riesigen Teppich reingelegt und will dort
in der Kirche ganz unterschiedliche Angebote machen wie etwa Yoga
oder einer Theatergruppe den Raum überlassen. Die Gemeinde versucht,
im Kiez eine zentrale Anlaufstelle zu sein und das Klientel
anzusprechen, das zum Beispiel auf dem Weg zum Tempelhofer Feld zum
Feiern gekommen ist, genauso wie die vielen jungen Familien mit
Kindern. Nah bei den Menschen zu sein, über alle Generationsgrenzen
hinweg, zu experimentieren - das gefällt mir.
Was sind Ihre nächsten Vorhaben?
Heinrich: Im November steht die Synodentagung mit der Ratswahl an.
Es wird wieder einen Bericht des Beauftragtenrats zum Schutz vor
sexualisierter Gewalt geben und einen Schwerpunkt zu der Thematik.
Daran werden auch Betroffene beteiligt. Das bereiten wir im Präsidium
gerade vor.
Darüber hinaus möchte ich den Sommer auch nutzen, um auf eine
Erkundungsreise zu gehen. In den letzten Monaten habe ich viele
kirchliche Strukturen kennengelernt. Jetzt will ich mich nochmal ganz
unkonventionell auf eine Tour begeben, bei der man - wie bei der
coolen Kirche in der Nähe des Tempelhofer Felds - mehr oder weniger
per Zufall interessante Menschen und Projekte entdecken kann.
Was versprechen Sie sich davon?
Heinrich: Ich will sehen, was die Menschen aktuell bewegt und wo
wir neue Netzwerke erschließen können. Ich möchte ein genaueres
Gefühl dafür bekommen, was Menschen bei uns ein Zuhause bieten könnte
und wo Menschen aus allen Altersgruppen bei uns andocken können. Ich
habe in den vergangenen Wochen oft den Eindruck gehabt, von uns als
Kirche wird erwartet, dass wir immer sofort eine Antwort parat haben.
Ich will vermitteln, dass es auch in Ordnung ist, wenn wir mal
fragen, wenn wir selbst suchen, wenn wir nicht gleich auf alles eine
Antwort haben.
Wie soll die Tour ablaufen?
Heinrich: Ganz konkret plane ich, in vier Wochen von Flensburg
nach Freiburg zu reisen - nur mit der Bahn, ohne Hotelübernachtung.
Ich fahre von Stadt zu Stadt und sehe spontan, wen ich treffe. Nach
dem Prinzip Zufall. Ich will es schaffen, mich auf dieser Reise
bewusst außerhalb der Bubble zu bewegen. Natürlich wird einiges von
dieser «#Präsestour» auch auf Social Media zu sehen sein. Anderes
werde ich aber auch erst einmal nur für mich dokumentieren und später
auswerten. Zwischendrin habe ich ein paar feste Termine. Das ist
natürlich gewagt, aber ich bin sehr gespannt.
Wie würden Sie jemanden erklären, was Glaube ist?
Heinrich: Erklären, was «der» Glaube ist, kann man, glaube ich,
gar nicht. Ich kann beschreiben, was Glaube für mich bedeutet und wie
er mir Halt gibt. Für mich bedeutet Glaube, ein tiefes Vertrauen zu
haben. Er gibt mir Sicherheit. Glaube funktioniert für mich aber auch
nicht ohne Menschen, mit denen ich besprechen kann, was der Glaube
für uns ist.
Die Rolle der Kirche als Zuhörerin und die Anforderungen der
Öffentlichkeit an die Kirche, sich zu bestimmten Themen zu
positionieren - steht das für Sie in einem Spannungsverhältnis?
Heinrich: Nein. Das sind zwei unterschiedliche Dimensionen. In der
Beziehung zum persönlichen Gegenüber, im Glaubensleben ist die
Dimension des Zuhörens zentral. Etwa im Hinblick auf die Fragen, was
Gott ist, was der Glaube ist. Nicht immer sofort die Antworten zu
haben, sondern gemeinsam mit den Menschen zu suchen. So kann die
Botschaft bei den Menschen ankommen. Etwas anderes ist es, sich zu
gesellschaftspolitischen oder ethischen Fragestellungen zu äußern. Da
muss man dann aus seiner christlichen Haltung heraus auch mal Flagge
zeigen... Das setzt aber voraus, schon von unserer Botschaft berührt
zu sein. Es ergänzt sich also.
Migration, Klimawandel, Geschlechterrollen - bei vielen
Themen gibt es eine Spaltung in der Gesellschaft - auch in der
Kirche. Wie gelingt es, auseinanderdriftende Positionen zu
integrieren?
Heinrich: Das integrierende Moment ist eine Diskussion, die den
anderen in seiner Position zumindest akzeptiert. Man muss ihm nicht
zustimmen oder alles in Gänze nachvollziehen können, aber man muss
die Spannung aushalten können - auch in unseren Debatten auf der
Synode. Das fällt mir hin und wieder auch nicht ganz leicht, aber es
ist die Grundvoraussetzung für jede ernsthafte Debatte.
Im Gegensatz zu anderen Institutionen haben wir ein einendes
Fundament. Wir können unsere Konflikte nicht wegbeten, aber im
Glauben haben wir eine gemeinsame Basis. Damit können wir auch
gesamtgesellschaftlich einen starken Beitrag leisten. Wir können
unterschiedliche Positionen, Meinungen an einen Tisch holen und ihnen
eine Art «safe space» bieten, wo sie ohne Angst vor Verurteilung in
Austausch treten können.
Bei welchem Thema sollte sich die evangelische Kirche nach
der Bundestagswahl besonders einbringen?
Heinrich: Das eine Thema, das alle beschäftigt und alle betrifft,
ist die Klimakrise. Da können wir als Kirche nochmal eine eigene
Perspektive eintragen, die sonst fehlen würde. Ich stelle mir oft die
Frage: Was ist der Mehrwert, wenn wir uns als Kirche in die
Diskussion einbringen? Vieles, was wir zur Bewahrung der Schöpfung
sagen, könnten andere auch aus einem reinen Selbst-Erhaltungstrieb
sagen: Ich will nicht, dass die Erde stirbt, auf der ich lebe. Unsere
Glaubensdimension wäre dazu nicht mal notwendig.
Aber hier gibt es eine klare Aufgabe für die Kirche, nämlich in
der Krise ganz klar den Aspekt der Klimagerechtigkeit einzutragen.
Als weltweit vernetzte Kirche stehen wir da noch viel mehr in der
Verantwortung. Wenn wir in Deutschland etwa über den Kohleausstieg
oder Windräder diskutieren, dann bringen wir mit unserer Perspektive
immer auch die Interessen unser weltweiten Partner:innen mit ein. Das
können wir aus der Verantwortung gegenüber unseren Partnerkirchen
heraus noch viel selbstbewusster tun als andere Organisationen und
damit zugleich all diejenigen unterstützen, die sich aus ganzer
Überzeugung für den Schutz unserer Welt einsetzen.