Startseite Archiv Nachricht vom 11. Mai 2021

"Menschen kommen an ihre Grenzen"

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Ein Anruf bei… Vanessa Herzog, Pflege-Teamleiterin bei den Johannitern in Hannover.

Frau Herzog, wie für unser Interview vor einem Jahr auch, haben Sie sich in eine stille Ecke zum Telefonieren zurückgezogen. Wie geht es Ihnen und Ihrem Team?
Herzog: „Soweit okay, vorsichtig entspannt, würde ich sagen. Man hat sich an die Maßnahmen gewöhnt. Allerdings ist das Unverständnis mancher Kunden wirklich anstrengend: dass man sich ständig neu erklären muss, warum man etwas später kommt oder jemand anderes. Es sind aber auch viele Kunden dabei, die großes Verständnis zeigen.“

Wie sehr war Ihr Team von der Krankheit selbst betroffen?
Herzog: „Wir sind lange Zeit verschont worden. Erst dieses Jahr gab es mehrere positiv getestete Mitarbeiter mit Grippesymptomen und auch Kunden die positiv getestet worden sind. Soweit ich weiß, haben sich aber von den Mitarbeitern alle gut erholt. Es war sehr belastend für alle, dass man als Ersatz zum Teil Kollegen aus ihrer Freizeit/Urlaub holen musste. 
Das andere ist, dass das zwischenmenschliche Miteinander fehlt, wir sind ein sehr gutes Team und sind auch mal zusammen Pizza essen gegangen, hatten Weihnachts- und Sommerfeiern und so weiter. Jetzt achten wir darauf, die Kontakte so gering wie notwendig zu halten. Da fehlt etwas Wichtiges für den Zusammenhalt im Team.“

Wie sind Ihre betreuten Personen durch die Pandemie gekommen? Sie müssen ja auch zu Ihnen, wenn sie beispielsweise in Quarantäne sind.
Herzog: „Das ist zum Teil wirklich hart. Was mir wirklich Tränen in die Augen getrieben hat, war ein Besuch bei einer Dame, die ihren 92. Geburtstag hatte und diesen allein verbringen musste, weil sie Kontakt zu einer positiv getesteten Person hatte. Auf ihrem Rollator stand ein einzelnes Geschenk und sie sagte, noch nie habe sie ihren Geburtstag allein verbringen müssen, noch nie. All diese gestohlene Zeit! Ich meine, wer weiß, wie alt sie wird und ob dies nicht der letzte Geburtstag ist. Vor der Dame habe ich es unterdrückt, aber als ich aus der Tür war, kamen mir die Tränen. Und ich denke, dass das alles Langzeitfolgen haben wird.“

Welche meinen Sie?
Herzog: „Diese Einschränkungen gehen wirklich auf die Psyche, diese Isolation ist nicht gesund. Und wir verdrängen so viele andere Probleme, die trotzdem noch da sind und sich eher noch verschlimmern: es kann doch nicht sein, dass jemand Depressionen hat und erst nach Monaten einen Therapie-Termin bekommt. Das ist doch kein Zustand. Oder Adipositas – viele Menschen bewegen sich jetzt noch weniger; Übergewicht und Suchterkrankungen werden zunehmen und uns noch Jahre beschäftigen. Viele denken, wenn sie erst ihre Impfung haben, ist alles wieder gut – aber so ist es leider nicht. Das ist allerdings nur meine persönliche Meinung.“

Abschließend: Wie zufrieden sind Sie mit dem gesellschaftlichen Umgang mit der Corona-Krise?
Herzog: „Ich denke, sie zeigt, wo es hakt, die Probleme im Gesundheitswesen. Leider wird da nicht viel gemacht. Das Problem ist ja auch nicht erst seit gestern da, dass es zu wenig Klinikpersonal gibt, etc. Viele verlassen die Branche. Warum? Menschen kommen an ihren Grenzen und das wird leider nicht gesehen. Dieses Thema spaltet die Gesellschaft sehr.“

Interview: Christine Warnecke/Themenraum
Vanessa Herzog pflegt hilfsbedürftige Menschen ohne Angst.