"Unsere Gesellschaft leidet an einem Empathie-Defizit"
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Im Mai, wenige Wochen nach dem Inkrafttreten der Corona-Maßnahmen, äußerte der Sozialphilosoph Oskar Negt (86) Hoffnung auf positive gesellschaftliche Veränderungen. Vier Monate später blickt der Adorno-Schüler im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) angesichts "Querdenker"-Demos und drohenden Entlassungen in angeschlagenen Konzernen weitaus kritischer auf die Entwicklungen.
epd: Herr Negt, im Mai, wenige Wochen nach Inkrafttreten der Corona-Regeln, haben Sie große Zuversicht geäußert, dass die Erfahrungen der Corona-Krise Zivilgesellschaft und Demokratie stärken könnten. Sie hatten Hoffnung, dass wir solidarischer werden. Sehen Sie das heute, vier Monate später, immer noch so?
Oskar Negt: Ich muss gestehen, dass sich meine Hoffnung in wesentlichen Teilen nicht erfüllt hat. Es hat sich nicht erfüllt, dass Corona einen Lernprozess auslöst, der zu strukturellen Veränderungen unserer Gesellschaft führen könnte. Ich habe in den ersten Wochen nach dem Lockdown viel Rücksichtname und Solidarität unter den Menschen erlebt. Ich hatte den Eindruck, dass da eine neue Qualität von Zusammenhalt und zivilgesellschaftlichem Selbstbewusstsein entsteht - und der Mut, über bestehende Verhältnisse hinauszudenken.
Ich habe gehofft, dass die Corona-bedingte Unterbrechung unserer Lebens-, Arbeits- und Produktionsroutinen Systemkritik wachruft - und die Sehnsucht auszuscheren aus der unerbittlichen Wachstumslogik, die uns an- und umtreibt. Stattdessen beobachte ich nun, einige Monate später, dass es vor allem um die Sicherung des Status quo, der bestehenden Gesellschaftsstrukturen, geht.
epd: Woran machen Sie das fest?
Negt: Die Bundesregierung hat einen hohen dreistelligen Milliardenbetrag - eine Summe, die vor Corona praktisch außerhalb unseres Denkens lag - für die Milderung der Corona-Folgen für Gesellschaft und Wirtschaft zur Verfügung gestellt. Erhebliche Steuermittel sind in Konzerne wie Lufthansa und Conti geflossen, die dennoch Tausende Jobs abbauen werden. Anhand solcher Beispiele wird deutlich, dass ein System gestützt wird, in dem der Verlust von Arbeit - und damit auch von einem Stück menschlicher Identität - billigend in Kauf genommen wird. Wäre wirklich verstanden worden, dass wir nicht einfach weitermachen können wie bisher, wäre dieses Geld nachhaltiger investiert worden.
epd: Wofür zum Beispiel?
Negt: Für Bekämpfung des Klimawandels, für einen umweltgerechten Umbau unserer Wirtschaft, für Bildung - und damit auch für mehr Gerechtigkeit und Teilhabe. Und womöglich auch für ein bedingungsloses Grundeinkommen, das jedem Menschen unabhängig von seiner Leistungsfähigkeit Sicherheit und ein gewisses Maß an Würde zubilligt. Durch die Corona-Krise ist noch erkennbarer geworden, dass die großen Herausforderungen dieser Zeit nach den Prinzipien des neoliberalen Kapitalismus nicht lösbar sind. Unsere Wirtschaftsform rechnet mit grenzenlosem Wachstum, obwohl wir wissen, dass unsere Ressourcen begrenzt sind. Sie reduziert den Menschen auf eine - im Zweifel verzichtbare - Arbeitskraft.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der der Verlust von Arbeit gleichbedeutend mit dem Verlust von Würde ist. Arbeit bedeutet deshalb nicht nur Identität und Sinnstiftung, sondern ist für viele Menschen auch ein beständiger Quell existenzieller Ängste. So lange dies so bleibt, müssen wir beunruhigt sein. Zumal wir heute noch nicht absehen können, wie stark die wirtschaftlichen Verwerfungen durch die Corona-Pandemie tatsächlich ausfallen werden - und damit auch die sozialen Folgen.
epd: Die Demokratie wird derzeit hart geprüft. Nicht nur von Neonazis und Reichsbürgern sondern auch von Esoterikern, Althippies, Impfgegnern und Menschen, die sich als religiös bezeichnen. Was eint diese seltsam heterogene Klientel, die sich auf den "Querdenker"-Kundgebungen versammelt?
Negt: Das Verbindende scheint mir Angst zu sein, die durch Ungewissheit und Kontrollverlust entsteht. Oder genauer: Ein sich immer weiter anreichernder Angstrohstoff, ein wachsendes Unruhepotenzial, das offenbar in immer breitere Gesellschaftsschichten vordringt und den Nährboden für diese Kundgebungen bildet. Diese eigentlich angstgetriebene Spannung entlädt sich zunehmend aggressiv, zuletzt in der Parole, den Reichstag zu stürmen.
Eine ähnliche Situation hatten wir schon im Zusammenhang der sogenannten Flüchtlingskrise, etwa in Gestalt der "Pegida"-Proteste oder der sogenannten Montagsdemos. Damals entzündete sich der Protest an den Geflüchteten, womöglich auch ein wenig an der Bundeskanzlerin.
Bei den aktuellen Protesten ist die Demokratie selbst Zielscheibe - oder genauer: die sie repräsentierenden Institutionen und Organe. In dieser grundsätzlichen Verneinung unserer demokratischen Verfasstheit drückt sich ein neues Maß an Frustration aus, das zunehmend den sozialen Frieden bedroht. Dass es in Berlin rechtsradikalen Demonstranten gelungen ist, die Absperrungen vor dem Bundestag niederzurennen und Reichsflaggen auf den Stufen des Parlaments zu schwenken, fasst diese neue Eskalationsstufe in ein niederträchtiges Bild: den gewaltsamen Angriff auf die demokratische Gesellschaftsordnung von rechts.
epd: Zugleich sagt das aktuelle "Populismusbarometer" der Bertelsmann-Stiftung, dass radikale Einstellungen nur an gesellschaftlichen Rändern zunehmen, also dort, wo Populismus ohnehin schon verstärkt auftritt. Jenseits der Ränder sind extremistische Einstellungen hingegen rückläufig. Schätzen Sie die Gefahr für die Demokratie also nicht ein wenig zu hoch ein?
Negt: Ich sehe die Gefahr eher auf einer Ebene unterhalb klar identifizierbarer politischer Einstellungen. Es ist ein zwar heftiges, zugleich aber diffuses Gefühl, das sich auf diesen Kundgebungen Bahn bricht. Es wird nicht allein durch konkrete Enteignungs- und Abstiegs-Sorgen genährt, sondern offenbart sich zunehmend in paranoiden Befürchtungen, manipuliert und von finsteren Mächten gesteuert zu werden. Dieses Gefühl konkretisiert sich erkennbar in Verschwörungstheorien, denen seriösen Studien zufolge bereits mehr als ein Drittel der Bevölkerung zustimmen.
Mich beunruhigt, dass dieses Gefühl zunehmend auch Schichten erfasst, die eigentlich nichts zu befürchten haben. Und mich beunruhigt, dass dem Staat auch von Menschen offene Verachtung entgegengebracht wird, die sich nicht so eindeutig in die rechtsradikale Ecke einsortieren lassen. Was wir gerade erleben ist eine Verwahrlosung der politischen Sitten und eine Vernachlässigung des Gemeinwesens. Das ist nicht nur ein Phänomen an den Rändern. Es wurzelt in ausgeprägtem Egozentrismus und einem Mangel an Orientierung am Gemeinwesen. Unsere Gesellschaft leidet an einem Empathie-Defizit: Darum handelt es sich im Kern.
epd: Also ist von Ihrer Hoffnung zu Beginn der Corona-Krise wenig übriggeblieben?
Negt: Ich bin ein grundlegend optimistischer Mensch. Ich glaube daran, dass genug Menschen begreifen, dass wir unsere Probleme grundsätzlicher und viel ehrlicher angehen müssen - und zwar auf der Systemebene. Mut machen mir diesbezüglich etwa die jungen Protagonisten von "Fridays for Future", die viele grundlegende Schieflagen ganz instinktiv richtig erfassen.
Die Demokratie- und Menschenverachtung der selbst ernannten "Querdenker" und Rechtsradikalen verstört mich hingegen zutiefst. Umso mehr bewundere ich die Aktivisten der "Black Lives Matter"-Bewegung, deren Kampf gegen Rassismus von tiefer Humanität angetrieben ist - und die sich mühelos an die verordneten Regeln gehalten haben, eben weil sie dem wechselseitigen Schutz dienen, also dem Gemeinwesen verpflichtet sind. So war es jedenfalls hier in Hannover. Solche Bespiele sind ein wesentlicher Grund für meinen anhaltenden Optimismus.
Interview: Daniel Behrendt/epd-Landesdienst Niedersachsen-Bremen