Startseite Archiv Nachricht vom 14. August 2020

"Der Versuch, den Reset-Knopf zu drücken" - vor 75 Jahren wurde die EKD gegründet

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Treysa/Hannover. Mit einem leisen Klick öffnet Direktor Maik Dietrich-Gibhardt die schwere Holztür zu dem historischen Ort. Eine Metalltafel gleich links davor erläutert, was hier im Saal der Hephata-Kirche im nordhessischen Treysa vor genau 75 Jahren geschah: 120 Männer aus 28 Landeskirchen wagten drei Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen Neuanfang und gründeten mitten in einem zertrümmerten Land die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). "Das macht uns schon stolz", sagt Dietrich-Gibhardt (55), seit sechs Jahren Leiter des hessischen Diakoniezentrums "Hephata": "Als Gründungsort der EKD hat Treysa eine bleibende Bedeutung."

Die Chronik des Zentrums gibt noch Einblick in die Ereignisse von damals. "Die Zahl der Teilnehmer wuchs ständig", notierte der frühere Hephata-Direktor Friedrich Happich (1883-1951) in kursiver Schreibmaschinenschrift. Nur 47 Teilnehmer hatte der württembergische Landesbischof Theophil Wurm (1868-1953) für die Konferenz vom 27. bis 31. August angemeldet - am Ende musste die Einrichtung einschließlich der Tagesgäste bis zu 140 Herren in abgenutzten Anzügen beherbergen und verköstigen.

"Es gab gekochte Kartoffeln mit einer dünnen Fleischsoße, dazu eingelegte rote Beete und Pfefferminztee", notierte der amerikanische Pastor Stewart Herman (1909-2006), der als Beobachter teilnahm. "Viele Delegierte brachten Rucksäcke voller Kartoffeln und Wurststücke mit."

Alle Teilnehmer waren sich einig, dass nach der NS-Zeit eine neue Dachorganisation an die Stelle der 1933 gegründeten, staatsfixierten "Deutschen Evangelischen Kirche" treten musste. Doch sie trugen Konzepte im Gepäck, die unterschiedlicher kaum sein konnten, wie der Münchner Kirchenhistoriker Harry Oelke erläutert.

So strebte Bischof Hans Meiser (1881-1956) aus München eine Konfessionskirche der Lutheraner an, in der die reformierten und unierten Protestanten nur am Rande vorkommen sollten. Martin Niemöller (1892-1984) dagegen, in der NS-Zeit Symbolfigur der kirchlichen Opposition gegen Hitler, plädierte für eine "Kirche von unten": Von den Gemeinden her sollte sie sich aufbauen und ihre Schuld am Nazi-Unheil bekennen.

Immer wieder gerieten der "Vulkan" genannte Niemöller und der "Eisberg" Meiser im Kirchsaal von "Hephata" aneinander. "Sie haben es kaum zusammen in einem Raum ausgehalten", sagt Oelke. Die Konferenz drohte zeitweilig zu platzen.

Dass es nicht dazu kam, ist zum großen Teil dem Stuttgarter Bischof Wurm zu verdanken. Wurm galt wegen seines Protests gegen das Euthanasie-Programm der Nazis zur Tötung geistig behinderter Menschen als moralische Autorität. Seit 1941 verfolgte er ein kirchliches Einigungswerk: Er wollte die zerstrittenen Gruppen der kirchlichen Opposition zusammenführen. "Er hatte Charisma, ihm traute man das zu."

Nach hitzigen Diskussionen einigten sich die Kirchenvertreter in Treysa auf einen Kompromiss: die Vorläufige Ordnung für die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Darin wird die Eigenständigkeit der Landeskirchen betont. Auch auf ein eigenes Bekenntnis verzichtet die EKD. Sie soll in erster Linie die Interessen der Kirche nach außen vertreten und ihre politische und soziale Verantwortung wahrnehmen - unter anderem durch das neu gegründete Evangelische Hilfswerk, das sich um Flüchtlinge und Vertriebene kümmern sollte.

Eine Lektion aus den Erfahrungen der NS-Zeit war die neue Leitungsstruktur mit einem zunächst zwölf Personen umfassenden Rat aus Theologen und Laien an der Spitze. Erster EKD-Ratsvorsitzender wurde Wurm, sein Stellvertreter Niemöller. In den Rat rückte auch der Jurist und spätere Bundespräsident Gustav Heinemann (1899-1976).

Die Debatten in Treysa sollen so turbulent verlaufen sein, dass einige Delegierte zwischendurch den Saal verließen. Der sonst so besonnene Wurm soll mit der Faust auf den Tisch geschlagen haben. Keiner war mit dem Ergebnis zufrieden, alle Lager mussten Federn lassen. Doch die Einigung stand. Beobachter haben es als "Wunder" gewertet, dass sie überhaupt zustande kam. "Es war eine sehr pragmatische Entscheidung, die der Situation gerecht wurde", bilanziert Oelke. Der heutige EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm sagte über die Gründung: "Errichtet wurde kein stolzer Dom, sondern eher eine Baracke - aber eine erstaunlich wetterfeste."

Die Konferenz hatte weitreichende Folgen: Im Oktober 1945 bekannten die Protestanten in der Stuttgarter Erklärung ihre Mitschuld am Nazi-Unheil: "Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben." Dieses Bekenntnis ebnete dem deutschen Protestantismus den Weg zurück in die weltweite Gemeinschaft der Kirchen. 1948 entfaltete die junge EKD in Eisenach die Ergebnisse von Treysa in ihrer Grundordnung und nahm so endgültig Gestalt an.

Heute gehören der EKD mit ihrem Kirchenamt in Hannover 20 Landeskirchen mit insgesamt rund 20,7 Millionen Protestanten an. Doch sie verliert seit Jahren an Mitgliedern. Bedford-Strohm betont daher: "Wir müssen raus - dahin, wo sich der Alltag der Menschen abspielt. Und müssen hören, was die Menschen wirklich suchen und brauchen, um Kraft und Orientierung in ihrem Leben zu bekommen."

epd Niedersachsen-Bremen
Maik Dietrich-Gibhardt studiert die Chronik der Geschehnisse in Treysa 1945. Bild: EPD

Im Interview erläutert der Münchner Kirchenhistoriker Harry Oelke die Schwierigkeiten des Neuanfangs in Treysa.

Herr Professor Oelke, gab es eine "Stunde Null" für die evangelische Kirche nach der NS-Zeit und dem Zweiten Weltkrieg?

Oelke: "Stunde Null" halte ich für keinen angemessenen Begriff. Als Historiker achtet man immer auch auf Kontinuitäten, man kann bei keinem Umbruch eine Stunde Null identifizieren. Aber das Jahr 1945 markierte schon so etwas wie einen Neustart für den Protestantismus. Es ist der Versuch, den Reset-Knopf zu drücken. Gleichwohl ist dieser Neuanfang bestimmt von Belastungen aus der NS-Zeit. Die Anhaftungen an der Vergangenheit waren noch stark.

Welche sind das?

Oelke: Die evangelische Kirche ist im NS-Staat der kritischen Wächterfunktion für das öffentliche Lebens nicht nachgekommen. Gott in bestimmten Dingen mehr zu gehorchen als den Menschen, ist ja auch ein Aufruf zu kritischer Wachsamkeit. Der Protestantismus hat sich stattdessen stärker der Obrigkeit untergeordnet. Man hat Martin Luthers "Zwei-Reiche-Lehre" zu einseitig im Blick auf die Trennungsimpulse zwischen geistlichem und weltlichem Reich, also zwischen Kirche und Staat, interpretiert und damit eine Kontrollfunktion gegenüber dem Nationalsozialismus gar nicht erst aufgebaut. Das hing der Kirche noch lange nach, denn damit verknüpfte sich die Schuldfrage. Sie hat den Nationalsozialismus im Blick auf die Staatsverbrechen, die dann spätestens ab 1939 insbesondere durch die Ermordung der europäischen Juden erschreckende Ausmaße annahmen, nicht kritisch beobachtet und nicht eingegriffen, etwa durch Verlautbarungen. Sie hat sich nur auf das Überleben der Kirche konzentriert. Das war zwar nicht unwichtig, aber anderes blieb ausgeblendet. Hinzu kommt, dass die kirchliche Opposition gegen die NS-Kirchenpolitik, die "Bekennende Kirche", zerstritten war und uneinheitlich auftrat.

Wie hat sich das auf die Gründung der EKD ausgewirkt?

Oelke: Die versäumte Wächterfunktion hat sich sofort in Treysa bemerkbar gemacht. Dort wurde eine Verlautbarung mit dem Titel "Verantwortung der Kirche für das öffentliche Leben" aus der Feder des Historikers Gerhard Ritter vorgelegt. Das Thema kam nicht von ungefähr. Die Kirche griff genau dasjenige Defizit auf, das sie spürte und von dem sie wusste: Zwölf Jahre haben wir diese Funktion nicht wahrgenommen. Indirekt war das eine Anerkenntnis eines historischen Versagens. Die Verlautbarung bedient sich zum Teil noch rückwärtsgewandter Denkformen. Das Vorwärtsgewandte ist aber, dass man fortan im Grundsatz öffentliche Verantwortung für die Gesellschaft wahrnehmen will.

In welchem Punkt war die Gründung wirklich ein Neuanfang?

Oelke: Man erkannte die Notwendigkeit einer Reflexion über das Verhältnis von Religion, Kirche und Politik. Die wird jetzt zumindest eingefordert. Das hatte man vorher in der NS-Zeit nicht gemacht, damals wurde höchstens andeutungsweise hinter verschlossenen Türen darüber gesprochen. Aber jetzt will sich die Kirche explizit um dieses Thema kümmern. Das war zunächst eine Absichtserklärung, aber daraus konnte sich dann in den 1970er Jahren die protestantische Sozialethik entwickeln. Auch wurden jetzt erstmals Laien neben Theologen in ein kirchliches Beratungsgremium gewählt. Bis 1945 waren die Theologen dabei unter sich geblieben. Und noch ein Punkt: Es wurde in Treysa eine wahrhaftige Presse gefordert. Hier wurde die Bedeutung der Presse erkannt für eine Kirche, die in einem demokratischen Staat leben und ihn fördern will. Das bewusste Generieren einer Öffentlichkeit über die Kirchenmauern hinaus war weitsichtig und verglichen mit der Publizistik vor 1945 etwas Neues für den Protestantismus.