Startseite Archiv Nachricht vom 28. Mai 2020

"Die Ältesten und die Kleinsten haben keine Lobby"

Die Darstellung der Archivmeldungen wird kontinuierlich verbessert. Sollten Sie Fehler bemerken, kontaktieren Sie uns gerne über support@systeme-e.de

Hannover. Für ihre Äußerungen zu einem "Deal der Generationen" in der Corona-Krise erntet Margot Käßmann Widerspruch. Die einstige hannoversche Landesbischöfin und ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hatte in einem Interview dafür plädiert, dass die über Sechzigjährigen zu Hause bleiben, damit Kinder wieder mehr Freiheit bekommen. Im epd-Gespräch erläutert sie ihre Position.

epd: Frau Käßmann, Ihre Äußerungen zu einem "Deal der Generationen" haben zu einer kontroversen Debatte und einigem Gegenwind geführt. Was erleben sie derzeit?

Käßmann: Mein Gefühl ist, dass sich jetzt Menschen empören, die meinen, ich wollte ihre Freiheit einschränken. Menschen, die vor allem in meinem Alter sind. Mir ging es dabei viel mehr darum, die Situation der Kinder in den Mittelpunkt zu stellen. Dafür zu werben, ihnen jetzt schnell wieder Freiheit und Normalität zu ermöglichen. Denn sie sind es, die in der Corona-Krise die massivsten Einschränkungen aushalten müssen, die am meisten leiden. Mir geht es also nicht darum, irgendjemandes Freiheit einzuschränken, sondern den Kleinsten und Schwächsten in unserer Gesellschaft wieder Raum zu geben.

epd: Das aber, indem die Älteren sich zurückziehen, freiwillig "zu Hause bleiben sollen", wie Sie sagen.

Käßmann: Und ich denke, sehr viele dieser Älteren haben dafür viel Verständnis. Mehr als 20 Millionen Deutsche sind Großeltern. Das ist eine riesengroße Gruppe, die aber derzeit kaum gehört wird, zumindest nicht in dieser Großelternrolle. Menschen, die ihre Enkel derzeit nicht sehen dürfen - und zugleich miterleben, dass die Kleinsten kaum noch Kontakt zu Gleichaltrigen haben, lange nicht auf Spielplätze konnten, noch immer nicht in die Kitas und nicht in die Schulen können. Als siebenfache Großmutter würde ich sofort für das Wohl meiner Enkelkinder einen Schritt zurücktreten, ohne mich in unzumutbarer Weise in meinen Rechten eingeschränkt zu fühlen, wenn das für sie hilfreich wäre.

epd: Sie haben die ältere Generation als "Luxusgeneration" bezeichnet. Ist das nicht arg pauschal?

Käßmann: Dazu stehe ich. Und damit meine ich ausdrücklich die Menschen meines Alters. Die Generation der 60- bis 70-Jährigen. Es geht nicht um geldwerten Luxus. Sondern darum, dass sie weder den Krieg noch die harten Entbehrungen danach erleben mussten, sondern ein Leben lang in Frieden und Freiheit gelebt haben - und viele Menschen dieser Generation auch in materieller Sicherheit. Ich habe keinesfalls von der Kriegsgeneration gesprochen, die bittere Not erlebt hat. Am allerwenigsten habe ich die Menschen in den Altenheimen gemeint, die eine tief belastende Isolation ertragen müssen. Im Gegenteil: Ich habe schon vor Wochen darauf hingewiesen, wie drängend ihre Situation ist. Die Menschen in den Pflegeheimen sitzen im Grunde im selben Boot wie die Kleinsten in unserer Gesellschaft: Beide haben keine starke Lobby. Meine Generation dagegen sehr wohl.

epd: Schüren derart zugespitzte Formulierungen nicht einen Generationen-Konflikt?

Käßmann: Nein, der baut sich ohnehin seit längerem wieder auf. Meine Generation hat die Eltern gefragt, warum sie den Krieg, die Nazi-Diktatur und den Mord an Millionen Juden nicht verhindert haben. Mit unseren eigenen Kindern gab es wenig grundsätzliche Konflikte. Aber heute stehen wir in einem ganz anderen, in seiner Tragweite aber sehr wohl vergleichbarem Generationen-Konflikt. Wir erleben ihn weltweit in Gestalt von "Fridays for Future". Heute sind es unsere Kindeskinder, die unserer Generation mit Nachdruck für die Bewahrung der Schöpfung ins Gewissen reden. Und jetzt, in der Corona-Krise, sehen wir eine weitere Konfliktlinie. Sie macht sich an der Frage fest, was wir für eine solidarische Gesellschaft zu geben bereit sind.

epd-Landesdienst Niedersachsen-Bremen
Margot Käßmann. Bild: Norbert Neetz/epd-bild

Kritik an Margot Käßmanns Äußerungen zum "Deal" der Generationen

Die Theologin Margot Käßmann setzt sich in einem Interview dafür ein, dass ältere Menschen in der Corona-Krise als Risikogruppe eher zu Hause bleiben, damit Jüngere wieder zurück ins öffentliche Leben können. Dafür erntet sie heftigen Widerspruch.

"Der Vorschlag diskriminiert Ältere und blendet aus, was wir über das Virus bisher wissen", sagte der stellvertretende SPD-Vorsitzende und Juso-Chef Kevin Kühnert am Donnerstag dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Gerade als Jugendorganisation verwahren wir uns dagegen, gegen unsere Eltern und Großeltern ausgespielt zu werden." Auch Bremens Altbürgermeister Henning Scherf (SPD) und die Präses der EKD-Synode, Irmgard Schwaetzer, widersprachen Käßmann.

Die 61 Jahre alte frühere hannoversche Landesbischöfin und EKD-Ratsvorsitzende Käßmann hatte einen "Deal" der Generationen in der Corona-Krise ins Gespräch gebracht. "Wenn ich wüsste, dass die Kleinen und Jüngeren wieder rauskönnen, wenn wir, die über Sechzigjährigen, die Risikogruppen, zu Hause blieben, wenn das der Deal wäre, dann würde ich mich darauf einlassen", sagte die Theologin. Die Älteren hätten ein gutes Leben gelebt. Deshalb sei es angesichts der Bedrohung durch Covid-19 jetzt an ihnen, zugunsten der Kinder zu verzichten.

Kühnert entgegnete: "Die Konfliktlinien lassen sich nicht einfach zwischen den Generationen ziehen, auch wenn Kinder aufgrund ihrer Abhängigkeit von Erwachsenen besonders verletzlich sind." Der Vorschlag Käßmanns vermittle auch ein falsche Krankheitsbild, da auch junge Menschen an Covid-19 mit schweren Verläufen erkranken könnten. "Dazu kommt die psychische und emotionale Belastung, die die Isolation mit sich bringt."

Scherf argumentierte ähnlich. "Das ist völlig verdreht - die Generationen gegeneinander auszuspielen, das geht gar nicht und ist auf eine schreckliche Weise befremdlich", sagte der 81-jährige Bestsellerautor ("Grau ist bunt") dem epd. "Wir sind alle Kinder Gottes, alle schutzbedürftig und müssen in dieser Krise alle solidarisch aufeinander aufpassen", betonte Scherf, der zusammen mit seiner Frau Luise drei Kinder und neun Enkel hat. Er schätze Margot Käßmann als kluge Frau: "Aber in diesem Punkt hat sie sich verrannt."

Schwaetzer (78) betonte: "Wenn Margot Käßmann nun fordert, die Alten sollen freiwillig auf Kontakte, also in der Konsequenz auch Besuche der eigenen Kinder verzichten, muss ich widersprechen: Das geht gegen die seelische Gesundheit. Darauf haben auch die Alten ein Recht." Auch sie sehe, "dass die Kinder wieder raus müssen", sagte die frühere Bundesministerin und FDP-Politikerin: "Ich finde es nicht nachvollziehbar, dass sich Politiker nicht alle Mühe geben, Kinder wieder in den Alltag zurückkehren zu lassen."

Der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, sagte dem epd: "Mich befremdet, wie Frau Käßmann auch, dass bei allen Lockerungsdebatten die Rechte von Kindern kaum eine Rolle spielen. Eine zwangsweise Isolierung älterer Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen ist aber der falsche Weg."

Kritik kam auch vom Grünen-Bundestagsabgeordneten Sven-Christian Kindler (35) aus Hannover. "Wir müssen uns mit Verve für die Rechte von Kindern einsetzen, ohne diese gegen die Rechte von älteren Menschen auszuspielen", sagte er dem epd. Er schätze Käßmann als Theologin und wachen Geist, aber in diesem Punkt liege sie falsch. Ihr Vorschlag laufe darauf hinaus, weite Teile der Gesellschaft in häusliche Isolation zu verbannen. Kindler setzt sich seit langem für einen Dialog zwischen den Generationen ein.

Zuvor hatte bereits der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, scharfe Kritik an den Äußerungen Käßmanns geübt. "In einer Zeit, in der 800.000 Pflegebedürftige systematisch in Heimen isoliert werden, sollte niemand mehr Verzicht von alten Menschen einfordern", sagte Brysch in Dortmund.

epd-Landesdienst Niedersachsen-Bremen