Startseite Archiv Nachricht vom 25. Dezember 2019

"Das Geheimnis und das Versprechen des Lebens"

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Es liegt dort ganz ungeschützt. Nackt und bloß. Die Nabelschnur ist noch nicht abgetrennt. Den Kopf hat es zur Seite gedreht, die kleinen Ärmchen neben den Körper gelegt. Deutlich zu erkennen, dass es ein kleiner Junge ist. Ein schutzloses Neugeborenes.

„Christ Child“ heißt diese aus weißem Stein gehauene lebensgroße Skulptur. Mitten in London steht sie. Der englische Künstler Michael Chapman hat sie geschaffen für den Eingangsbereich vor der Kirche St. Martins-in-the-Fields.

Mich rührt das Bild an. Schutzlos und doch völlig friedlich liegt dieses Kind auf einem gewaltigen Steinquader, auf einer rauen und unwirtlichen Oberfläche. Mitten im Herzen der Großstadt London, am Trafalgar Square, einem der verkehrsreichsten und belebtesten Orte der Metropole London (und auch in Zukunft einem der wichtigsten Orte in unserem Europa!).

Auf den 4,5 Tonnen schweren Steinsockel hat der Künstler das Wort vom Anfang des Johannesevangeliums gemeißelt: „Am Anfang war das Wort, und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns.“ (Johannes 1,14). Die Skulptur führt uns mit ihrem harten Kontrast vor Augen: Gott kommt als ein schutzloses Kind zu uns. In eine raue und unwirtliche Welt. Mitten in den manchmal besinnungslosen Trubel unseres Alltags.

Das schutzlose und friedliche Kind rührt uns an. So wie es Neugeborene immer tun. In diesen Wochen vor Weihnachten wurde auf einem Parkplatz bei uns in Stade ein neugeborenes Mädchen ausgesetzt und von aufmerksamen Passanten gefunden. Sein Schicksal hat die Menschen bundesweit berührt. In jedem Neugeborenen liegt das Geheimnis und das Versprechen des Lebens.

Das große Geheimnis der Menschwerdung Gottes wird für mich in dem Denkmal in London im wahrsten Sinn des Wortes verkörpert: Gott selbst nimmt Fleisch an, wird ein Mensch. Mitten in unserer rauen und harten Wirklichkeit. In Jesus Christus, diesem Kind, geboren in einem Stall in Bethlehem. Gott kommt mitten in unsere Wirklichkeit, wie sie nun einmal ist: Hart, trubelig, verkehrsreich, manchmal übermächtig groß. Und doch ist seither alles anders. Gott ist genau in unserem Alltag, in allem Getose an unserer Seite. So wird es zu Weihnachten in unseren Gottesdiensten gelesen: „Denn uns ist ein Kind geboren, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter.“ (Jesaja 9,5)

Gottes unendliche Größe zeigt sich im Allerkleinsten und Wehrlosesten: einem neugeborenen Kind. Im Schwachen ist Gott gegenwärtig. Und bei den Schwachen. So hat es Jesus dann vorgelebt: Er heilte Kranke, segnete Kinder und stellte sie als Vorbilder den Erwachsenen vor Augen, er nahm Platz am Tisch von Ausgegrenzten. Am Ende gab er sein eigenes Leben hin.

„Das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns.“ Michael Chapman hat diesen Moment in seiner Skulptur eingefangen: den unvergesslichen Moment, wenn ein Kind zur Welt kommt. Das unvergleichliche und erschütternde Glück, wenn nach den Wehen und Schmerzen der Mutter das Kind endlich das Licht der Welt erblickt. Wie alles plötzlich in einem neuen Licht erscheint. Im Allerkleinsten zeigt sich das Wunder des Lebens, zeigt sich etwas unendlich Großes. In dem Schutzinstinkt, den ein Neugeborenes in uns wachruft, schimmert es auf, wie wir Menschen von Gott gemeint sind: füreinander sorgend mit aufmerksamem Blick.  

Regionalbischof Dr. Hans Christian Brandy (Stade)
"Christ Child" von Michael Chapman. Skulptur im Eingangsbereich vor der Kirche St. Martins-in-the-Fields in London. Bild: Sonja Domröse