Startseite Archiv Nachricht vom 12. Juli 2016

Alleinerziehende Mütter und ihre Kinder machen Ferien an der Ostsee

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„Hier entsteht eine Solidarität, durch die sich meine Sichtweise geändert hat. Ich achte weniger darauf, was wir nicht mehr haben, sondern darauf, was wir haben: uns.“

Eine Woche lang haben mehr als ein Dutzend Mütter und ihre Kinder Zeit für sich gehabt, im Naturfreundehaus „Kalifornien“ in Schönberg an der Ostsee. Bei ihrem Besuch berichten sie Landessuperintendentin Klostermeier davon, wie schwer ihr Alltag manchmal ist und wie sie es schaffen, die gemeinsame Zeit mit ihren Kindern trotzdem zu genießen.

„Wenn die Sonne ihre Strahlen morgens durch das Fenster schießt, dass sie Deine Nase kitzelt, bis Du halb im Schlaf noch niest…“ Ein Chor von 15 Frauen, fünf Betreuerinnen und Betreuern und 18 Kindern singt im Gemeinschaftsraum unter dem Dach des Naturfreundehauses „Kalifornien“ ein Lied zum Start in den Tag. Es ist halb zehn Uhr morgens. Passend zum Text scheint die Sonne durch die Dachfenster in den hellen Raum mit den Holzbalken unter der weißen Decke. Vor zwei Tagen sind die Mütter mit ihren Kindern an der Ostsee angekommen. Bereits jetzt wirkt die Gruppe recht vertraut.

Weitere Lieder werden gesungen, teilweise im Kanon. „Das war schon super! Morgen machen wir das dann in drei Gruppen!“ kündigt Betreuerin Petra Bollow an und lacht. Die lebhafte Frau in kurzer Hose und mit einem dicken, braunen Zopf ist selbst allein erziehend; sie reist regelmäßig als Ehrenamtliche mit zu der Freizeit, an der sie früher selbst als Gast teilgenommen hat. Sie weiß, wie es den Frauen hier geht – und ihre Fröhlichkeit wirkt ansteckend und bricht schnell das Eis. „Der Austausch mit den anderen Familien ist toll. Es entsteht so eine Solidarität. Außerdem kann meine Tochter hier mit anderen Kindern zusammen sein. Das ist ein kleiner Ersatz dafür, dass sie die Freizeit sonst nicht mit Mama, Papa, Oma und Opa verbringen kann“, sagt eine Mutter.

Den Vormittag werden Mütter und Kinder nun getrennt voneinander verbringen. Schließlich sollen auch die Frauen etwas Zeit für sich haben. Nach einer Achtsamkeitsübung mit Betreuerin und Organisatorin Rita Steinbreder vom Evangelischen Frauenwerk im Sprengel Osnabrück bekommen die Frauen etwas Zeit, um auch einmal allein zu sein. „Für viele ist die Freizeit ein Rettungsanker, der sie in den Monaten zuvor über Wasser gehalten hat“, sagt Rita Steinbreder, die regelmäßig die Freizeiten für allein erziehende Mütter anbietet.

Währenddessen gehen die Kinder im Alter von sechs bis 16 Jahren an den Strand. Sie werden unter anderem von der 17-jährigen Ira betreut. „Ich schlage vor, wie gehen erstmal in Richtung Brasilien.“ Noch so ein ungewöhnlicher Name für einen anderen Ortsteil der Gemeinde Schönberg. „Entschuldigung, können Sie uns sagen, wo es zum Naturfreundehaus `Kalifornien´ geht?“ Zwei Mädchen aus der Gruppe fragen am Deich ein entgegen kommendes Ehepaar nach dem Weg – obwohl sie ihn doch eigentlich kennen. Aber: Die beiden wollen Punkte sammeln, für den Aufgabenzettel, den die beiden Betreuer Ira und Nick am Morgen verteilt haben. „Einheimische um ein Foto bitten“ steht darauf, oder eben „nach dem Weg zum Naturfreundehaus fragen.“ – „Hauptsache, die Kinder schaffen es, Dinge zu tun, für die man schon ein bisschen Mut braucht“, erklärt der 18-jährige Betreuer Nick.

Ein bisschen Mut, oder auch etwas mehr – das ist auch das, was die Mütter oft beweisen müssen. Eine der Teilnehmerinnen der Familienfreizeit berichtet im Gespräch mit Landessuperintendentin Klostermeier, dass ihre Sorgen und Nöte im Alltag von anderen oft abgetan würden. „Das können nur andere allein Erziehende verstehen, wie es mir manchmal geht“, sagt sie, die wie die anderen nicht namentlich genannt werden möchte – weil das Thema doch sehr emotional und persönlich ist. Im Urlaub Anschluss zu finden, das sei für Ein-Eltern-Familien oft schwierig, berichtet eine andere Frau mit zwei Kindern: „Die Familien mit Mutter und Vater brauchen keine Gesellschaft“, so ihre Erfahrung.

Dabei sind so genannte Ein-Eltern-Familien längst keine Seltenheit mehr: In Deutschland ist mittlerweile jede fünfte Familie allein erziehend, in neun von zehn Fällen handelt es sich um allein erziehende Mütter. 2,2 Millionen Kinder wachsen in Ein-Eltern-Haushalten auf – Tendenz steigend. Laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung sind immer mehr von ihnen von Armut bedroht; die Hälfte der allein Erziehenden bekommen vom Ex-Partner keinen Unterhalt für die Kinder, so die Studie.

Was den Frauen im Naturfreundehaus „Kalifornien“ am meisten zu schaffen macht, das ist das Bild der scheinbar perfekten Familie. „Warum kann ich meinem Kind keine heile Familie bieten?“ – diese Frage haben sich die meisten der teilnehmenden Frauen schon gestellt. Oft werde auch von anderen die Ursache für die Trennung ausschließlich bei der Frau gesucht: Hat sie das Kind zu sehr in den Mittelpunkt gestellt? War sie nicht mehr attraktiv genug?

Als zwei Frauen davon berichten, dass ihre kleinen Kinder im Supermarkt an der Kasse schon mal einen fremden Mann mit „Papa, Papa“-Rufen bedacht haben, steigen in den Augen einiger Mütter Tränen auf. Doch in ihren Gesichtern ist nicht nur Betroffenheit abzulesen, sondern auch Verständnis.

„Gott spricht: Ich will euch trösten wie einen eine Mutter tröstet.“ Wahrscheinlich trifft die aktuelle Jahreslosung nirgendwo so sehr zu wie hier: Kinder, die über den Verlust der vermeintlich „heilen Familie“ hinweg getröstet werden wollen, und Mütter, die oft an der Grenze der Belastbarkeit stehen und selbst ab und an Zuwendung brauchen. Auch jetzt kommen schnell tröstende Worte von den anderen Frauen: „Manchmal sehen die anderen Familien ja auch nur so glücklich und heil aus, dabei sind es selbst oft Patchwork-Familien“, wirft eine bislang eher still wirkende Frau in den Raum. „Ich versuche, den Vorteil zu sehen: Ich kann vieles allein entscheiden, und mein Kind muss nicht ständig den Streit zwischen seinen Eltern miterleben – wie es vielleicht ohne eine Trennung gewesen wäre“, pflichtet ihr eine andere bei.

„Im ersten Jahr war ich sehr traurig“, sagt die Mutter eines dreijährigen Sohnes auf die Frage von Birgit Klostermeier, ob sich das Gefühl des „Anders-seins“ im Laufe der Zeit verändert habe. Sie habe lange gebraucht, um zu akzeptieren, dass sie allein erziehend ist, sagt die Frau. „Doch jetzt denke ich: Man muss echt und ehrlich sein; dem Kind erklären, warum der Papa nicht mehr mit im Haus lebt und dann sagen: `Das ist jetzt so.´ Und: `Du bist nicht allein damit; anderen Kindern – zum Beispiel XY aus Deiner Klasse – geht es genau so.´“

„Wir Mütter müssen stark sein, damit unsere Kinder stark werden“, sagt eine Mutter von zwei Töchtern im Teenager-Alter. „Auch wenn es oft nicht einfach ist: Wir können froh sein, dass wir unsere Kinder haben.“

„Und die Kinder sind froh, dass sie Sie haben.“ erinnert Landessuperintendentin Birgit Klostermeier die Runde. Die Bilder der vermeintlich perfekten Familie seien offenbar doch stark in den Köpfen vertreten. Sie setzten die Frauen sehr unter Druck und vermittelten ihnen häufig das Gefühl der Schuld. „Ich wünschte, ich könnte Ihnen einige dieser vielen Selbstvorwürfe einfach nehmen. Auch heile Familien sind nach innen ja nicht immer heil. Vielleicht wird dort nur nicht so sichtbar, wenn etwas Mühe macht und schlecht läuft. Manchmal ist das Bild eben nur das Bild. Wir alle sind doch nie perfekt. Ich möchte Ihnen Mut machen. Sehen Sie auf das, was Sie Ihren Kindern an Kraft und Vertrauen schenken und mitgeben. Und: Lassen Sie es auch einfach mal gut sein, so wie es ist.“

Die Kinder haben währenddessen einen entspannten und spannenden Vormittag erlebt: die Aufgaben sind bestanden, die entsprechenden Punkte gesammelt. Vielleicht sind auch sie ein klein bisschen mutiger geworden.

Katharina Lohmeyer, Öffentlichkeitsarbeit Sprengel Osnabrück
Spaziergang mit Schwimmreif, Bild: epd-bild.de

Über das Projekt

Was ist es, was Menschen Trost bietet, wenn sie zum Beispiel ihre Heimat verloren haben? Was hilft einem Jugendlichen, andere zu trösten, die Probleme in der Schule oder im Elternhaus haben? Oder was geschieht, wenn jemand scheinbar untröstlich ist, weil er weiß, dass sein Kind sterben wird? Diesen Fragen geht die Landessuperintendentin Birgit Klostermeier in der Reihe „Sprengelfrüchte“ auf den Grund – in Gesprächen mit Ehrenamtlichen, mit Organisatoren, Seelsorgern und Betreuern. Seit Anfang Mai besucht sie das ganze Jahr über verschiedene Einrichtungen und Initiativen, um das Engagement im Sprengel Osnabrück zu erkunden. Thema der ersten Ausgabe des Projektes „Sprengelfrüchte“ ist die aktuelle Jahreslosung der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für das Bibellesen: „Gott spricht: Ich will euch trösten wie einen eine Mutter tröstet.“