Ohne Eltern und ohne Geld - Kommunen und Diakonie suchen dringend Pflegefamilien für minderjährige Flüchtlinge
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Hannover (epd). Die Entscheidung, einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling aufzunehmen, fiel Steffen Meyer aus Hannover nicht schwer. "Ich bin ein Familienmensch und finde das ganz toll mit jungen Menschen, weil sie einen so bereichern", sagt der 52-Jährige. Eines seiner fünf Kinder hatte Anfang des Jahres das große Haus verlassen, die Meldungen über allein reisende Jugendliche häuften sich. Über einen Verein für Flüchtlingshilfe lernten Meyer und seine Frau den 15-jährigen Zubair aus Afghanistan kennen, und schnell war klar: "Wir kümmern uns um diesen Jungen."
Immer mehr unbegleitete Minderjährige kommen nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Deutschland an. In diesem Jahr sollen es nach Schätzungen von Experten noch bis zu 30.000 allein reisende Jugendliche werden. Niedersachsen erwartet im kommenden Jahr mindestens 3.000 von ihnen. Die Zahl steigt dort deutlich an, weil die Kinder und Jugendlichen seit Anfang November bundesweit verteilt werden. Sie bleiben nicht mehr wie vorher in den grenznahen Bundesländern, in denen sie angekommen sind.
Die Suche nach Pflegefamilien wird deshalb immer dringender. Das haben auch der evangelische Pastor Martin und seine Frau Bianca erlebt. Als das Ehepaar aus Barskamp bei Lüneburg im September ein Pflegekind aufnehmen wollte, habe sich beim zuständigen Jugendamt noch keiner richtig ausgekannt. "Wir waren die ersten, die sich gemeldet haben", sagt Bianca Herdejürgen-Rutkies. Es folgten viele Formulare und eine lange Wartezeit. Innerhalb weniger Wochen habe sich alles verändert, erzählt der Pastor. "Die Unterlagen wurden immer abgespeckter. Die Dinge müssen jetzt entschieden werden."
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge brauchen besonderen Schutz, das betonen auch Politiker immer wieder. Viele leiden unter Traumatisierungen. Ihr Schicksal ist bewegend, wie das von Farhad K. aus Afghanistan. Er war erst neun Jahre alt, als er aus seiner Heimat floh. Seine Eltern sind tot, den Bruder verlor er während der Flucht aus den Augen, erzählt er. Acht Jahre lang war Farhad unterwegs, schlug sich allein durch, über Pakistan, den Iran, die Türkei und Griechenland. "Als ich in Hannover angekommen bin, hatte ich kein Geld und keine Kraft mehr", sagt der heute 21-Jährige.
Als Farhad vor vier Jahren in Hannover landete, fand er in einer Wohngruppe Unterstützung und Anschluss. Die Unterbringung in Einrichtungen der Jugendhilfe sind eine Alternative zum Leben in einer zunächst fremden Familie. Doch mit der zunehmend dramatischen Lage vieler Flüchtlinge wächst auch das private Engagement. Mehr als 500 Menschen besuchten etwa die Info-Abende zum Thema Pflegeeltern, die die Stadt und Region Hannover Ende Oktober ausrichteten.
Wer einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling aufnehmen möchte, sollte sich gut darauf vorbereiten, betont der hannoversche Diakoniepastor Rainer Müller-Brandes. Das Diakonische Werk in Hannover vermittelt nicht nur Pflegeeltern, es berät und begleitet die Familien auch - zum Beispiel, wenn sie Probleme bei der Erziehung haben oder sich im deutschen Aufenthaltsrecht nicht auskennen. "Es ist ganz wichtig, dass man die Familien dann nicht alleine lässt", betont Müller Brandes.
Dass es Probleme geben kann, hat auch Steffen Meyer erlebt. Anfangs klappte es gut mit Zubair. Er ging zur Schule, spielte Fußball und verbesserte sein Deutsch. "Die Sprache transportiert man in einer Familie sehr schnell." Trotzdem bewahrte der 15-Jährige eine innere Distanz, berichtet der Pflegevater. Über sein Smartphone hielt Zubair engen Kontakt mit seinen Eltern, bekam Anweisungen, sah die Mutter weinen. "Die Familie sitzt quasi bei Ihnen am Küchentisch."
Mittlerweile sind Zubairs Eltern nach Deutschland gekommen. Gemeinsam mit dem Jungen hat Meyer sie in der Erstaufnahme besucht. Seine Frau und er rechnen täglich damit, ihren Pflegesohn zurückgeben zu müssen. "Wer ein Pflegekind aufnimmt, muss sich darüber im Klaren sein, dass er nicht weiß, für welchen Zeitraum." Seine Entscheidung, Zubair ein Zuhause zu geben, bereut er nicht. Die Meyers denken bereits darüber nach, ein weiteres Mal ein Flüchtlingskind aufzunehmen. "Wir haben ihm so viel von unserer Kultur und Sprache mitgegeben, das kann man ihm nicht mehr nehmen.
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