Die Mutigen von St. Michaelis
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Lüneburg. An hohen Feiertagen wie Pfingsten stapfen Musikbegeisterte wie Almut Roeßler in Jeans und Turnschuhen hinauf auf den Turm der Lüneburger Michaeliskirche. Denn auf den ungewöhnlichen Glocken dort oben lassen sich richtige Melodien spielen.
Als Almut Roeßler nach 155 Stufen das erste Mal die riesigen Tasten ihres neuen Instruments hinunterdrückt, da macht sie einen Fehler. Und die ganze Stadt hört mit. Denn das neue Hobby von Almut Roeßler heißt nicht Cembalo oder Klavier. Es heißt Geläut. Die 41-jährige Sprecherzieherin spielt auf den jahrhundertealten Glocken der Michaeliskirche in Lüneburg. Üben kann sie nie.
Dicht an dicht kuscheln sich die alten Fachwerkhäuschen der Lüneburger Altstadt entlang der Kopfsteinpflasterstraßen. Stockrosen sprießen vor den Sprossenfenstern, und in der Mitte leicht erhöht steht die spätmittelalterliche evangelische Backsteinkirche St. Michaelis. Die ältesten ihrer neun Glocken stammen aus dem Jahr 1492, dem Jahr der Entdeckung Amerikas. Und damit aus der Zeit, als Kirchenglocken erstmals auf bestimmte Töne gegossen wurden und nicht länger nur Signal-, sondern auch Musikinstrument waren.
Heute spielt eine ganze Glöckner-Gilde das 5,3 Tonnen schwere Geläut. Michaelis-Kantor Henning Voß hat die Truppe ins Leben gerufen. 17 Menschen zwischen Mitte 20 und Mitte 70 stapfen zu Festgottesdiensten und an Feiertagen wie Ostern oder Pfingsten die enge Treppe im Turm hinauf und machen hoch über den Dächern der Stadt Musik.
Musik - das sind im Glockenstuhl von St. Michaelis in erster Linie Choräle. Wenn Almut Roeßlers Ehemann Johannes allerdings am Hebel steht, füllen auch schon mal die Melodien des Londoner Big Ben oder von Beethovens Ode an die Freude die Lüneburger Luft. Neben Glocken spielt der 43-Jährige Geige, und sein neues Instrument hat einen neuen Ehrgeiz in dem IT-Fachmann geweckt: Stücke so zu transponieren, dass sie auf den neun Glocken zu spielen sind. "Das geht nicht immer", sagt der Hobbyglöckner. "Und vor dem ersten Spielen ausprobieren kann ich es auch nicht."
Neun Holztasten, neun Glocken, neun Töne: Dass die Läuteglocken einer Kirche eine Oktave plus Halbton ergeben, ist ungewöhnlich. Meist gibt es eigene, zu diesem Zweck gebaute Glockenspiele. "Das Geläut und dessen Nutzung ist einzigartig", sagt Matthias Braun vom Deutschen Glockenmuseum im westfälischen Gescher. Er kennt zwar Geläute, die eine Oktave oder mehr überspannen. Und im Rheinland ist es üblich, sogenannte Beiermelodien auf Läuteglocken zu spielen. Doch weiß der Glockenkenner von keinem anderen Geläut in Deutschland, auf dem Choräle gespielt werden.
Stockenklavier heißt das System aus Holztasten, über das die Glocken in Schwingung geraten. Seile aus Hanf führen von den Stöcken über Rollen hinauf zu den Klöppeln in den Glocken. Blank vor lauter Händedruck ist das Eichenholz in der staubigen Glockenstube. An der ersten Taste ganz links hängt zur Verstärkung des Drucks ein roter Backstein. Es ist der Hebel für die größte Glocke des Geläuts, die Michaelisglocke mit fast anderthalb Metern Durchmesser.
Das Glockengenie des Mittelalters, Gerhard van Wou, hat sie 1492 aus Bronze gegossen. "Wir waren hingerissen", erzählt Almut Roeßler über den Moment vor einem Jahr, als sie zum ersten Mal tun durfte, was sie zuvor in einer Silvesternacht mit Kantor Henning Voß erlebt hat - trotz ihres kleinen Patzers, den die ganze Nachbarschaft mithörte. "Wenn ich überlege, wie viele Menschen vor uns hier schon gestanden und auf den Glocken gespielt haben - das ist der Wahnsinn."
Wenn die Sprecherzieherin heute wieder einmal ihren ersten Choral "Lobet den Herrn" spielt, dann tut sie das fehlerfrei. Ein bisschen schief klingen die Choräle über Lüneburg schließlich immer. Denn einen sauberen Sinuston treffen die Glocken bei aller Gießerkunst nicht.
Almut Roessler (41) spielt auf den jahrhundertealten Glocken der evangelischen Michaeliskirche in Lueneburg. Foto: epd-bild/Hans-Juergen Wege